Sigismund
Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 361-366
Kleists Liebesleben
Nachdem ich so die Datierung und die Adresse des Briefes richtig gestellt habe, komme ich
zu den uns hier interessierenden Frage, inwieweit der Brief das Verhältnis Kleists zu
Henriette von Schlieben beleuchtet. In dem Briefe findet sich eine Stelle, deren Deutung
Minde-Pouet völlig ratlos gegenübersteht. Nachdem Kleist seine Freude ausgedrückt hat,
daß Ernst v. Pfuel wieder nach Königsberg zurückgegangen ist, das einzige, was ihm
in seiner Lage übrig blieb, schreibt er wörtlich weiter: Doch unersetzlich ist es,
daß wir uns nicht, er und B., in Dresden haben <362:> sprechen können. Der
Augenblick war so gemacht, uns in der schönsten Begeisterung zu umarmen; wenn wir noch
zwei Menschenalter lebten, kommt es nicht so wieder. Dazu schreibt Minde-Pouet: Das
schwierigste Rätsel gibt B. und der von Kleist charakterisierte Dresdener Aufenthalt auf;
Dresden lag doch Jahre zurück, wofern man nicht einen uns unbekannten Dresdener
Aufenthalt vor der Übersiedelung nach Königsberg annehmen will. Darauf ist zu
erwidern: Daß Kleist vor Königsberg in Dresden sich aufgehalten hat, ist sicher, wie wir
unten sehen werden. In Wirklichkeit handelt es sich aber bei der zitierten Briefstelle gar
nicht um einen früheren Dresdener Aufenthalt, sondern um eine projektierte Zusammenkunft
in Dresden\1\. Die Freunde hatten Königsberg
verlassen in der Absicht nach Dresden zu gehen. Vor Berlin hatte sich Pfuel von den drei
anderen getrennt, um die Familie Fouqué zu besuchen; Kleist wollte nach Dresden voraus,
Pfuel sollte nachkommen. Es kam anders. Kleist wird in Berlin festgehalten und entgeht nur
durch einflußreiche Verwendung dem Tode, Pfuel zwingen die Verhältnisse, seinen Weg
nicht nach Dresden, sondern wieder zurück nach Königsberg zu nehmen. Daß Dresden das
Ziel der beiden Freunde war, als sie Königsberg den Rücken kehrten, das beweist nicht
bloß unsere Briefstelle, sondern das steht ausdrücklich in dem Brief Ulrikes an Clarke:
et
il comptait se rendre à Dresde, heißt es da, afin de cultiver paisiblement les
lettres et les arts. Das schwierigste Rätsel löst sich also ganz von
selbst. Was bedeutet es aber weiter, wenn Kleist voller Emphase von dem Dresdener
Aufenthalt spricht und das Wiedersehen als den Augenblick bezeichnet, so gemacht,
uns in der schönsten Begeisterung zu umarmen? Was war es überhaupt, das die
Freunde so gewaltsam nach Dresden zog? Pfuel hatte in Dresden seine Liebe: Emma Körner;
schon im Dezember 1805 hat Kleist mit Interesse <363:> das Geschick seines
Freundes verfolgt, der mit dem Korps, bei welchem er steht, vor die Stadt rückt, in
welcher zugleich der Feind und sein Mädchen wohnt! Für Kleist war der Magnet, der
ihn vom hohen Norden nach Dresden zog, Henriette von Schlieben, und der Dritte im Bunde
B., mit dem er in Dresden zusammentreffen wollte, war auch damals glücklicher Bräutigam,
nämlich Brockes, dessen Liebesverhältnis ich oben besprochen habe, und dessen Braut,
wenn nicht in Dresden selbst, so doch in erreichbarer Nähe zu weilen pflegte. Kleist
malte sich in der Einsamkeit der Gefangenschaft das Rendezvous mit den Freunden in
glücklichster Stimmung aus, und er sieht bei dem Zusammentreffen in der Stadt, welche
sein Liebesglück birgt, den schönsten Augenblick, so schön wie ihn das Leben nicht zum
zweiten Male bieten kann.
Das Verhältnis Kleists zu der Schlieben hat nach alledem den folgenden
Verlauf genommen. Kleist faßte zu dem Mädchen schon beim ersten Zusammentreffen, im
Frühjahre 1801, eine tiefe Neigung, wie sie sich deutlich offenbart in dem zärtlichen
Ton, in dem innigen Gefühl, das immer zum Durchbruch kommt, wenn er über sie oder an sie
schreibt. Nach Abschluß seiner Wanderjahre, als er in Berlin eine Anstellung gefunden,
richtet Kleist als immer treuer Freund an die teure Freundin in
Dresden einen sehr teilnamsvollen und herzlichen Brief und bittet sie um ein paar Zeilen
von ihrer Hand. Die Korrespondenz mag der Beginn eines zärtlichen Verhältnisses zwischen
beiden gewesen sein, und es läßt sich denken, daß in der Zeit zwischen diesem Briefe
(Juli 1804) und der Abreise nach Königsberg ihre Beziehung jene Form annahm, welche die
ältere Schwester berechtigte, Kleist als den Bräutigam Henriettes zu bezeichnen. Wie
dann Kleist voller Sehnsucht von Königsberg zu seiner Braut eilte, und wie sein Dresdener
Aufenthalt vereitelt wurde, das haben wir im vorhergehenden erfahren. Viel unerklärlicher
ist es für uns, daß das Verhältnis Kleists zu Henriette abbrach, als er aus der
Gefangenschaft nun wirklich nach Dresden kam und dort seinen Aufenthalt nahm. Wir wissen,
daß er bald nach <363:> seiner Ankunft dem Mündel in Körners Hause seine Neigung
zuwandte. Darnach wäre es das natürlichste, anzunehmen, zumal da in der einzig
authentischen Quelle, die ich beibringe, der Name der Dresdener Liebe nicht genannt ist,
daß das Verhältnis zur Schlieben fortdauerte, und daß es sich Emma Körner gegenüber
nur um ein offensichtliches Interesse handelte, welches zu unkontrolierbaren Gerüchten
den Anlaß bot. Aber da die Familientradition und manches andere für eine tatsächliche
Verlobung spricht, so läßt sich nach dem vorliegenden Material nur annehmen, daß Kleist
in Dresden mit Henriette Schlieben aus uns unbekannten Gründen brach, und daß er
allmählich seine Neigung einem anderen Mädchen zuwandte.
Es wird berichtet, daß Kleist eine Herzensneigung an das Haus des
alten Körner fesselte; sein Mündel Emma Juliane Kunze, die Tochter eines Leipziger
Kaufmanns war der Magnet, der Kleist mit Allgewalt anzog. Die Liebesepisode mit Emma Kunze
hat über das rein Persönliche hinaus ein literarisches Interesse, weil dem Liebesglück
und Liebesschmerz in diesem Falle das Käthchen von Heilbronn Anregung und Entstehung
verdankt. Die Angaben, die sich über Kleists Liebe zu Körners Mündel erhalten haben,
sind ungenau und nichtssagend und tragen so ausgesprochen den Stempel böswilliger
Entstellung, daß schließlich Erich Schmidt diese ganze Episode aus dem Leben Kleists von
der wunderlichen Verlobung, die er herrisch gelöst, in das Reich
der Legende verweist und ohne weiteres darüber hinweggeht. Man muß dankbar anerkennen,
daß Erich Schmidt nicht wieder die alte unsinnige Darstellung aufnimmt, die seit Bülow
sich durch alle Kleistbiographien hindurchzieht. Der Dichter lernte, so schreibt Bülow,
in dem Körnerschen Hause ein reiches und liebenswürdiges Mädchen kennen, mit dem ihn
bald eine gegenseitige Neigung verbindet. Ihrer Verbindung scheint nichts im Wege zu
stehen, aber sie zerschlägt sich an dem bloßen Verlangen Kleists, daß ihm die Geliebte
ohne ihres Vormundes oder <Porträt Emma Juliane v. Einsiedel, geb. Kunze (nach
dem Ölbilde von Tischbein)> <365:> Oheims Vorwissen schreibe. Sie weigert sich,
er wiederholt seine Bitte nach drei Tagen, in denen er sie nicht besuchte, darauf nach
eben so vielen Wochen und Monaten und löst zuletzt das Verhältnis auf diese Weise
völlig. Nichts ist erstaunlicher, als daß diese Darstellung, die so offenkundig bemüht
ist, dem Charakterzuge Kleists einen unsinnigen, bizarren Zug beizufügen, sich bis in die
neuste Zeit unverändert und unwidersprochen erhalten konnte. Ja selbst Zolling, der
wenigstens mit eifrigem Bemühen Bülows mangelhaftes Material ergänzte und neue
biographische Angaben über Kleists Braut beibrachte, schildert doch im allgemeinen das
Verhältnis so, wie wir es gewohnt sind und fügt seinen Angaben den baren Unsinn bei,
daß Kleist nach drei Tagen, drei Wochen und drei Monaten seinen Antrag wiederholt habe.
Wenn wir es nur gutheißen können, daß Erich Schmidt sich von dieser albernen
Darstellung frei gemacht hat, so müssen wir uns auf der anderen Seite dagegen verwahren,
daß nun diese ganze Episode aus dem Leben Kleists gestrichen wird. Denn alles spricht
dafür, und wir werden öfters darauf zurückkommen müssen, daß es sich nicht um eine
flüchtige Neigung bei Kleist handelte, wie vielleicht in den früheren Fällen, daß Emma
Kunze die Liebe Kleists bedeutet, daß er über die Enttäuschung, welche sie ihm
brachte, niemals hinweggekommen ist. Zweifellos liegt eine wahre und tiefe Herzensneigung
Kleists vor, die bestimmend auf seine Zukunft und seinen traurigen Lebensgang einwirkte.
Schon der Umstand, daß das Gerücht von Kleists Verlobung mit solcher
Bestimmtheit auftritt, ferner die Tatsache, daß um dieselbe Zeit Kleist von den
niedlichsten kleinen Händen, die in Dresden sind, stolz an seine Schwester schreibt,
weisen darauf hin, daß tatsächlich bald nach seiner Ankunft in Dresden Kleist einen
neuen Liebesbund geschlossen hatte. Die brieflichen Angaben von Mitgliedern der Familie
von Einsiedel, die mir vorliegen, bestätigen, daß Juliane Kunze, bevor sie die Frau von
Alexander v. Einsiedel wurde, die Braut Kleists war und bestätigen ferner auch, daß
sie noch in späteren Zeiten <366:> in dem gesellschaftlichen Kreise, der sich um
sie auf Schloß Gnandstein sammelte, als das Käthchen-Urbild geneckt wurde. Meine
jahrelangen Bemühungen, in diese Episode aus dem Leben Kleists Licht zu bringen, Klarheit
zu verschaffen über das Verhältnis selbst und über den Bruch des Verhältnisses, das,
wie verschiedene Momente erkennen ließen, bestimmend und einschneidend in das weitere
Leben Kleists eingreift, wurden mit Erfolg gekrönt, als ich in einer verschollenen, sehr
angesehenen Zeitschrift eine kurze aber authentische Darstellung des Verhältnisses
Kleists zu Juliane auffand. Die Zeitschrift, um die es sich handelt, in der sich Beiträge
namhafter Autoren finden, und die auch sehr interessantes Quellenmaterial zu
E. Th. A. Hoffmann u. a. enthält, heißt: Der Salon,
Mittheilungen aus den Kreisen der Literatur, Kunst und des Lebens. Unter Mitwirkung
geachteter Schriftsteller herausgegeben von Sigm. Englaender. III. Theil Wien
1847. Hier findet sich (S. 70) ein Aufsatz: Heinrich von Kleist. Ein Fragment
nach den Mitteilungen einer Freundin.
\1\ Die gleiche Ansicht finde ich
nachträglich bei Dombrowski vertreten (Euphor. XIV).
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