Sigismund
Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 356-361
Kleists Liebesleben
Während die verschiedensten Beziehungen Kleists, die auf ganz unkontrolierbaren
Gerüchten oder auf Äußerungen des Dichters, die alle möglichen Deutungen zulassen,
beruhen, getreulich von den Biographen vermerkt werden, bleibt das Verhältnis Kleists zu
Henriette von Schlieben völlig unberücksichtigt. In Erich Schmidts Kleistskizze ist es
mit Schweigen übergangen. Und doch besitzen wir gerade für diesen Herzensbund ein
dokumentarisches Beweisstück; eine Bleistift- und Kreidezeichnung Henriettes von der Hand
der älteren Schwester trägt die Unterschrift: Henriette von Schlieben, Kleists Braut.
Dokumentarisch belegte Tatsachen aus dem Leben Kleists sind selten und spärlich, und wir
haben kein Recht, ohne weiteres mit Stillschweigen über diese kurze und vielsagende
Behauptung der älteren Schwester hinwegzugehen. Minde-Pouet (Briefkommentar) hilft sich
über alle Schwierigkeiten hinweg, indem er den Vermerk als erfunden bezeichnet. Mehr aber
noch als dieses glaubhafte Dokument spricht für eine tiefe Herzensneigung wenigstens für
den, der lesen kann, die Beobachtung, <357:> daß Kleist gern in seinen Briefen bei
den Schliebenschen Mädchen verweilt, und daß er jedesmal, wenn er über sie oder an sie
schreibt, einen warmen Herzenston anschlägt, und daß dann aus allen seinen Äußerungen
eine Tiefe des Gefühls spricht, wie wir sie nie sonst bei ihm treffen. Das innige,
herzliche Gemüt Kleists tritt nie so deutlich zutage als in der Erinnerung oder in dem
Verkehr mit den Schliebenschen Mädchen. Da ist er viel herzlicher, viel gefühlvoller als
in den Briefen an die Zenge. Wüßten wir sonst nichts von einem Verlöbnis Kleists mit
Henriette von Schlieben, nach seinen Briefen müßten wir es vermuten. Aber auch Kleists
schriftstellerische Arbeiten werden gelegentlich von der Erinnerung an das Schliebensche
Haus beeinflußt. Wenige Tage vor seinem letzten Weihnachtsabend schreibt Kleist in den
Abendblättern (Nr. 68) einen Aufsatz über eine Weihnachtsausstellung, welche
Handarbeiten von Damen gebildeter Familien, ohne daß ihr Name bekannt gegeben wurde, zum
Verkauf ausbot. Es hat etwas Rührendes, das man nicht beschreiben kann, wenn man in
diese Zimmer tritt, so beginnt er; ganz ähnlich hat er fast zehn Jahre früher, als
er über die erste Bekanntschaft mit den Schliebens berichtet, sie arm, freundlich und gut
genannt, Eigenschaften, die zusammengenommen mit zu dem Rührendsten gehören, das
ich kenne. Weiter schildert der Aufsatz, wie in durchwachten Nächten, beim Schein
der Lampe die vielen tausend kleinen niedlichen Hände sich regen (Reminiszenz
an die niedlichsten kleinen Hände, die ihm in Dresden den Lorbeer reichen), und wir
erinnern uns unwillkürlich dabei an einen Brief aus dem Sommer 1803, wo er voller
Mitgefühl und Teilnahme über die gleiche heimliche Arbeit der Geschwister Schlieben an
Ulrike berichtet. Der ganze Aufsatz ist unmittelbar unter dem Eindruck dieser zärtlichen
Reminiszenz abgefaßt, und niemals offenbart sich Kleists innig-teilnehmendes Gemüt
schöner als in diesem kleinen Prosastücke. Dieselbe Empfindung kommt zum Ausdruck in
Steigs Worten: Ich kenne aus Kleists letzten Jahren keine Stelle, die sein Innerstes uns
mit gleicher Reinheit zeigte. <357:>
Wir müssen nach alledem Minde-Pouets Behauptung, die ältere Schwester
hätte unter das Bild Henriettes eine erfundene Behauptung gesetzt, zurückweisen. Es
läge ja auch an Minde-Pouet, den Beweis zu erbringen für einen Standpunkt, mit dem er
schließlich alles beiseite schaffen kann, was ihm unbequem ist. Aber wenn wir auch von
dem Verlöbnis absehen, dessen Tatsache ja an sich gleichgültig ist, so bleibt doch
bestehen, daß Kleist kaum einem anderen Mädchen so viel Herzensneigung entgegenbrachte,
daß keine so seine edelsten Regungen erweckte, als jenes Mädchen, das er selbst nach der
Gestalt, nach den Zügen, nach der Farbe der Augen, der Wangen, der Haare als den Typus
eines echten deutschen Mädchens schildert.
Die nächstliegende Frage, wann und unter welchen Umständen Kleist sich mit Henriette
verlobt hat oder verlobt haben könnte, ist bisher noch nicht geprüft worden; nur Zolling
hat die Frage gestreift, aber seine kurze Notiz enthält viel Unrichtiges, und er kommt
über eine ganz unhaltbare Vermutung nicht hinaus.\1\
Da Kleists Pariser Brief, so schreibt er, an die ältere Schwester nicht einmal Grüße an
Henriette und auch sonst gar keine Andeutung über ein Verlöbnis enthält, so müßte ein
solches erst später stattgefunden haben. Der Vordersatz ist nicht richtig, der Brief an
Karoline aus Paris vom 18. Juli 1801 enthält eine liebevolle Erwähnung der
jüngeren Schwester und Grüße, sein ganzer Inhalt freilich verrät, daß von einem
Verlöbnis nicht die Rede sein kann. Auch bei dem zweiten Besuch in Dresden und im
Schliebenschen Hause kann es zu einem solchen nicht gekommen sein, denn das in der Folge
an meine theure Freundin Henriette gerichtete Schreiben vom 29. Juli 1804
kann nimmermehr an eine Braut gerichtet sein. Zolling folgert, daß nach alledem Kleist,
obwohl uns nichts überliefert ist, in der Periode 1808-1809 bei Schliebens verkehrt und
sich da mit <359:> dem, auch nach ihrem Porträt zu urteilen, bildschönen Mädchen
verlobt habe. Wir wissen nur, so schließt Zolling seine kurzen Betrachtungen, daß er
damals der Bräutigam einer Mündel des alten Körner war und stehen also abermals vor
einem neuen Rätsel.
Ich glaube, daß sich dieses Rätsel in befriedigender Weise lösen
läßt, und daß sich des Rätsels Lösung in einem Briefe aus dem Jahre 1807 findet, der
während der französischen Gefangenschaft geschrieben ist. Es ist der zunächst von Tieck
veröffentlichte Brief, der in der Briefsammlung die Nummer 93 trägt. In seiner
Placierung dieses sehr wertvollen Schreibens, in der Konjunktur über den Briefempfänger,
in dem Kommentar zu dem Briefe, läßt der Herausgeber Witz und Wissen, wie es nur einmal
eine Briefsammlung und ihre Herausgabe erfordert, vermissen, und es wird zunächst nötig
sein das dichte Gebüsch von Fehlern und Irrungen zu entwirren, bevor wir an unser
eigentliches Thema herankommen. Zunächst wer ist der Briefempfänger? Während der
Herausgeber bei den zahlreichen Kleistbriefen, deren Adressat ihm unbekannt ist, das
kleinere Übel wählt, die Frage nach dem Briefempfänger offen zu lassen, richtet er mit
einem ganz unbegreiflichen Ungeschick und in völliger Unkenntnis den uns vorliegenden
Brief an Marie von Kleist. Mit viel mehr Recht hätte man auf jeden anderen Freund Kleists
raten können. Als Grund wird angegeben, daß der Brief zunächst bei Tieck
veröffentlicht ist, und daß Marie ihn bei der Herausgabe der Werke Kleists
unterstützte. Abgesehen davon, daß auch andere Tieck mit Material versorgten, so ist die
Behauptung ganz unrichtig, daß Marie Tiecks Aufforderung Folge leistete. Man lese nur
Maries höflich gewundenes Schreiben an Tieck bei Holtei. Hinter allen schönen Worten
verbirgt sich eine offene Absage. Marie hat ihre reichen Schätze geheim gehalten; selbst
ihr vorsichtig-engherziger Sohn Adolf war freigebiger, er hat vieles vernichtet, aber er
hat wenigstens manche Kostbarkeit durch die Vermittlung York v. Wartenbergs der
Öffentlichkeit überlassen. In dem Briefe wird der Empfänger mit Sie
angeredet. <360:> Das ist für Minde-Pouet kein Gegengrund, das vertrautere
Du können erst die späteren Jahre gebracht haben. Wohl möglich, aber diese
Behauptung nimmt sich gerade bei Minde-Pouet sehr eigenartig aus. Er leugnet an anderer
Stelle jede intime Beziehung zwischen Kleist und seiner Kusine. Das Sie
Kleists an seine Kusine, mit der er von früher Jugend an verkehrte, und die wie eine
zweite Mutter für ihn sorgte, würde nicht befremden; aber wenn in den letzten
Lebensjahren (und es könnte nur ein Jahr vor Kleists Tode dieser Umschwung erfolgt sein)
das vertraute Du an seine Stelle tritt, so müßte das darauf hinweisen, daß
das Verhältnis beider einen sehr viel intimeren Charakter angenommen hat. Es geht nicht
an, den Tatsachen Gewalt anzutun, je nachdem man sie gerade für seine Zwecke zu verwenden
für gut befindet. Daß der Briefempfänger mit Pfuel bekannt war, daß sich ihm Kleist
innerlich sehr nahe fühlte, ist doch kein Grund, der gerade für Marie und
nur für diese spricht. Spricht sonach nichts für Marie als Briefempfängerin, so vieles
gegen sie. Kleist erwähnt in dem Briefe eine Unterredung vor drei Jahren mit dem
Briefempfänger, in welcher beide stets auf den Tod als den ewigen Refrain des Lebens
zurückkommen, und in welcher dieser das Leben als einen ermüdenden Zustand, eine Fatigue
hinstellte. Das paßt sehr schlecht zu Marie, die vor unbedachten Schritten ihrer Freunde
zitterte und nach der traurigen Erfahrung mit Schlotheim stets das Schreckgespenst
weiterer Todesnachrichten vor Augen hatte (vgl. den Brief Karoline v. Fouqés
S. 20). Auch damit kann ich mich nicht einverstanden erklären, daß der Herausgeber
den Brief in den Sommer 1807 verlegt. Wenn Kleist auf eine Unterredung anspielt, die drei
Jahre zurückliegt, so würde er im Juni nicht schreiben im Sommer vor drei
Jahren, sondern einfach vor drei Jahren; mir erscheint es darnach
natürlicher, den Brief bis in den April oder Mai desselben Jahres zurückzudatieren.
Wenn wir die Frage erörtern, wer ernstlich als Briefempfänger in
Betracht kommt, so bietet uns zunächst <361:> die Einleitung des Briefes eine
Handhabe, in welcher Kleist auf alle die voraufgegangenen Bemühungen des Adressaten zu
seiner Befreiung hinweist. Freilich auch Marie hat sich ebenso wie Ulrike beim General
Clarke in diesem Sinne bemüht, aber doch erst in einer späteren Zeit, wie aus unserer
Darstellung (I 4) hervorgeht; die ersten energischen Schritte zur Befreiung gingen
von Kleists Freunden aus, besonders von Gleißenberg und Schlotheim. Ich stehe nicht an,
mit aller Bestimmtheit den Brief dem Freunde Kleists, H. v. Schlotheim, über
den ich oben (S. 21ff.) einiges biographisches Material beigebracht habe,
zuzuschreiben. Die ganze wehmütige, niedergeschlagene Stimmung spricht dafür; sie
spricht für Schlotheim, einem offenbar zu psychischen Depressionen geneigten jungen
Menschen, der in melancholischer Stimmung einen Selbstmordversuch begangen hat. Kleist
gehört zu den sensiblen und leicht suggestiblen Naturen, die in ihren Briefen viel mehr
die Stimmung des Empfängers als die eigene erraten lassen. Vor allem denke ich bei diesem
Briefe an Schlotheim, weil die oben erwähnte Unterredung über den Tod als den ewigen
Refrain des Lebens, auf welche Kleist anspielt, und die Jahre zurückliegt, sich am besten
anpaßt der Unterredung in jenen Tagen, in welchen Kleist an dem Krankenbette des an den
Folgen des Selbstmordversuches darniederliegenden Freundes bei Tage und bei Nacht wachte.
Die Reminiszenz Kleists bezieht sich offenbar auf Schlotheim und die Vorgänge, welche ich
oben (S. 19ff.) geschildert habe.
\1\ Gegenwart 1883 Nr. 35.
Nachträge zu Heinrich v. Kleists Leben II.
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