Sigismund
Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 346-351
Kleists Liebesleben
In Kleists Bräutigamszeit fällt auch die oft besprochene und verschieden
interpretierte Reise Kleists nach Würzburg Zweck und Ziel der Reise liegen
für uns klar zu Tage. Und wenn auch nicht, wie Erich Schmidt will, ein geheimes, altes
Leiden, das ihn unfähig zur Ehe machte Kleist zur Konsultation einer
ärztlichen Autorität in Würzburg veranlaßte, so doch eine zweifellos sehr unbedeutende
angeborene Anomalie, die sein heiliger Ernst, sein strenges Pflichtbewußtsein,
unterstützt von starker Einbildungskraft in seiner Tragweite viel bedeutender erscheinen
ließ, als sie in Wirklichkeit war. Nichts spricht mehr für Kleists Seelenreinheit, für
seine Ehrenhaftigkeit, für den Ernst, mit dem er das Verhältnis zu seiner Braut
betrachtete, als gerade die Würzburger Reise, die hohe Bedeutung, welche er ihr beilegt,
seine heimlichen ganz unbegründeten Selbstvorwürfe, der Jubel nach seiner Heilung.
Ich sehe mich gezwungen, an dieser Stelle die Frage eingehender zu
prüfen, ob Kleists Sexualempfinden ein in den Grenzen des Normalen sich bewegendes war,
und ob resp. inwieweit es abweichende Züge darbietet. Es ist ja von vornherein ebenso
einfach als verführerisch, das ganze Kleistproblem von diesem Punkte aus zu lösen. An
Andeutungen in diesem Sinne hat es auch zu jeder Zeit nicht gefehlt. Früher mußte das
legendäre Material dazu herhalten, um Kleists angeblich perverses Sexualempfinden zu
begründen. Nach meiner Veröffentlichung des anscheinend an Kleist gerichteten
Briefentwurfes seines Freundes Brockes wurden manche Andeutungen darin in diesem Sinne
verwertet, und nach der Veröffentlichung des tatsächlich sehr eigenartigen, an Pfuel
gerichteten Briefes vom 7. Januar 1805 erhielten die Verdächtigungen neue Nahrung
und nahmen <347:> eine festere Form an. Nach dem Erscheinen meines Kleist-Problems
erhielt ich ein Schreiben eines Literaturhistorikers aus dem Lager der Homosexuellen,
welcher Kleist für sich in Anspruch nahm und zwar vor der Veröffentlichung des
Pfuel-Briefes lediglich auf Grund des Brockeschen Briefentwurfes. Das Schreiben an sich
ist interessant genug, einmal als der Notschrei eines von der Gesellschaft Geächteten,
und dann weil es die Auffassung jener Kreise über Kleist und die uns beschäftigende
Frage wiedergibt. Ich halte es deshalb für angebracht, zunächst den Brief selbst an
dieser Stelle wortgetreu (nur mit Weglassung einiger unwesentlicher Punkte) hier
wiederzugeben, um dann an der Hand dieses Schreibens das Für und Gegen zu prüfen. Der
Brief hat den folgenden Wortlaut:
Sehr geehrter Herr!
Ich bin Literaturhistoriker von Beruf und habe mit wirklichem Interesse Ihre Studie über
H. von Kleist durchgearbeitet. Aber deswegen habe ich auch ein gewisses Recht, Sie
auf eine Beobachtung in Form einer bescheidenen Ausstellung aufmerksam zu machen, die nur
einer machen kann, der wie ich das Unglück hat, von Kindesbeinen an homosexuell
zu sein. Daß solche Menschen gerade in den geistig höchststehenden Kreisen zu Millionen
existieren, kann Ihnen nicht unbekannt sein, obwohl ich selbst erst, seit ich mich einer
der jetzt bestehenden Vereinigungen von Homosexuellen angeschlossen habe (um wenigstens
dann und wann einmal diese Qual der Lebenslüge ablegen und mich zeigen zu können,
wie ich bin) weiß, in welche riesenhaftem Umfange die Homosexualität unter den jetzt
lebenden Größen auf allen Gebieten der Wissenschaft und Kunst vertreten ist. Und nur die
schmachvolle Tatsache, daß diese unglücklichen Menschen, die wegen ihres
Schicksals (NB. unverschuldeten!) und ihrer vielen herrlichen Eigenschaften
alle Sympathien verdienen, zum Abschaum der Menschheit gestempelt werden, ist schuld
daran, daß eben diese Menschheit über die Ausdehnung dieser
Stief- <348:> kinder der Natur so völlig in Unkenntnis
sind. Also zur Sache: Heinrich v. Kleist war von Kindheit an
homosexuell, so wahr ich Ihnen diese Zeilen schreibe! Das zu wissen, genügt für mich
schon allein der Brief Brockes, der zweifellos ebenfalls homosexuell war. Aus den
Zeilen 22-30 des Briefes (S. 68) geht ja sonnenklar hervor, daß es sich nicht um
Jugendvergehungen in Form von Onanie handelt, sondern um Vergehungen mit andern,
natürlich seines Geschlechtes, da er rechtmäßigerweise eine so mächtige
Neigung wie diese nicht befriedigen konnte\1\.
Im übrigen habe ich so ungefähr alles durchgemacht wie Kleist. Mit größtem
Liebesbedürfnis ausgestattet, habe ich wie er schließlich das mehr unbestimmte
Gefühl, daß mit mir nicht alles in Ordnung sei, gewaltsam durch eine Verlobung töten
wollen. Habe mir auch eine Zeitlang eingebildet, daß ich das schöne Mädchen liebte;
habe glühende Liebesbriefe geschrieben, die ein Produkt meiner Phantasie waren; bin dann wie
er zum Arzt gerannt, habe mich wochenlang von ihm hypnotisch bearbeiten lassen, und
schließlich eingesehen, daß mir nicht zu helfen war. Sie werden vielleicht verstehen,
daß mich ein bitteres Gefühl überkam, als ich Ihre Bemerkung auf S. 59 las,
daß einem so jungen Menschen gegenüber erfahrungsgemäß die einfache
Wortsuggestion usw. dauernden Erfolg hat! Jawohl, Herr Doktor, wenn der
junge Mann nicht wie Kleist und ich homosexuell ist!! Wenn ich nicht wie Kleist an
Selbstmord ende Gift trage ich seit 7 Jahren auf Schritt und Tritt mit
mir herum , so geschieht das einfach, weil ich kein Genie bin, mich zu zügeln
gelernt und meine Befriedigung in angestrengtester Arbeit gefunden habe. Es würde mich zu
weit führen, wollte ich Ihnen meine Gründe im einzelnen dartun. Aber verlassen Sie sich,
bitte, auf mein Wort: ich kann Zug und Zug, eben weil ich <349:> selber
homosexuell bin, den unumstößlichen Beweis führen, daß Kleists Leben keine
Spur von einem Rätsel zurückläßt, wenn man ihn nimmt als was er war: als einen
unglücklichen Homosexuellen, der sein Mißgeschick so tief und schrecklich empfunden hat,
wie nur ein anderer. Sollten Sie meine Zeilen, die ich, ein Opfer der
wahnsinnigen Vorurteile meiner Mitmenschen, natürlich namenlos senden muß, unbeachtet
lassen, so kann mich das nicht wundern. So lange es noch Gelehrte gibt, die
angesichts der herausgegebenen Tagebücher eines Platen oder der Briefe eines Michelangelo
usw. usw. die Homosexualität der Verfasser in Frage stellen, ist natürlich alles
möglich. Mit aller Hochachtung usw.
Trotz der offensichtlichen Übertreibungen, die wir gewohnt sind in den
Dokumenten jener Unglücklichen und Geächteten zu finden, habe ich mich doch
entschlossen, den Brief der Öffentlichkeit zu übergeben, um endlich die Frage
erschöpfend zu erledigen, die gerade in letzter Zeit akuter geworden ist, denn je, die
Frage nach dem Sexualempfinden Kleists. Denn es ist gar kein Zweifel, daß gerade die
letzten Publikationen (Pfuel-Briefe) und der Zuschnitt, der der Biographie Kleists
neuerdings gegeben worden ist, denen reichen Stoff bietet, die das ganze Rätsel von
Kleists Erscheinung von diesem einen Punkte aus lösen zu können glauben.
Die Gründe, welche der Briefschreiber anführt, sind in ihrer
Haltlosigkeit sehr rasch erledigt. Aus dem Briefentwurf, der sich in Brockes
Tagebuch findet, bindende Schlüsse zu ziehen, ist an sich nicht berechtigt. Denn wir
besitzen gar keinen stichhaltigen Beweis, daß er überhaupt an Heinrich v. Kleist
gerichtet ist. Gerade der zitierte Passus\1\
paßt so wenig auf Kleist, von dem kein Mitlebender je behauptet hat, daß er große
äußere Vorzüge besitze, daß ich deswegen Zollings Vermutung, der Briefentwurf beziehe
sich auf Kleist, entschieden <350:> widersprochen hätte, wenn nicht bei Brockes als
Nachtrag, gleichsam als Berichtigung und Erklärung dieser Stelle eine Ausführung sich
fände, die für Kleists psychisches Befinden sehr bezeichnend ist, und die ich
gleichfalls wiedergegeben habe\1\. Aus dieser
Stelle geht hervor, daß Kleist gerade unter der Ungunst seiner äußeren
Hülle zu leiden hat, daß ihm die Empfindung schmerzlich ist, nichts persönlich
Einnehmendes zu besitzen, und daß sein warmes, gefühlvolles, anschlußbedürftiges Herz
sich zurückgesetzt fühlt.
Die weitere Parallele zwischen dem Briefschreiber und Kleist, daß
beide in derselben Absicht ärztliche Hilfe in Anspruch genommen haben, ist ganz
unzutreffend. Der Homosexuelle von heut mag ärztliche Hilfe aufsuchen, zu Kleists Zeiten
war die moderne Auffassung wenigstens in Laienkreisen nicht vertreten, daß man es mit
einer sexuellen Abnormität zu tun habe; was man heut als Leiden bezeichnet, galt damals
als Laster und nicht als Objekt ärztlicher Kunst. Wenn der Briefschreiber als
Stütze seiner Diagnose Kleists Liebesleben anführt und sich darauf beruft, daß Kleists
Brautstand in jungen Jahren denselben Verlauf genommen hat wie sein eigener, so muß diese
Begründung als durchaus stichhaltig anerkannt werden. In der Tat, wenn das Liebesleben
Kleists sich so gestaltet hätte, wie es nach den Kleistbiographien den Eindruck macht,
wenn wirklich der in jungen Jahren verlobte Dichter, der in seinen Briefen den Eindruck
eines kühl-zurückhaltenden Bräutigams macht, plötzlich und unvermittelt seine
Verlobung gelöst und dann nicht wieder den Versuch gemacht hätte, einem weiblichen Wesen
nahe zu treten, das ganze Sexualempfinden würde tatsächlich im Sinne des
Briefschreibers sehr verdächtig erscheinen müssen. Hamecher\2\, der bisher als erster und einziger Heinrich von Kleists
Liebesleben in einer kurzen Studie untersucht hat, <351:> kennt Kleist nur als
Bräutigam Wilhelmine v. Zenges, er leugnet Kleists homosexuelle Veranlagung, aber
seine Ausführungen können aus dem angeführten Grunde nicht überzeugend wirken. Würden
wir Kleist nur als Bräutigam Wilhelminens kennen, ich würde dem Briefschreiber nicht das
Recht zu seiner Verdächtigung absprechen, aber wir werden in der Folge sehen, daß
Wilhelmine im Grunde genommen nur eine Episode bedeutet im Liebesleben Kleists und, wie es
den Anschein hat, nur eine ziemlich nebensächliche, daß sein Herz in Wirklichkeit
anderen gehört hat. Der an sich berechtigte Einwand des Briefschreibers fällt also in
sich zusammen, wenn wir in der folgenden Untersuchung das Unzulängliche der bisherigen
Auffassung und Darstellung von Kleists Liebesleben gezeigt haben werden.
\1\ Andererseits seine äußern Vorzüge
die Verführung reizen mußten (das hätte ja bei Onanie gar keinen Sinn!).
\1\ Kleist-Problem, S. 68
Zeile 22-30.
\1\ Kleist-Problem, Anhang 4
S. 176.
\2\ Masken, Wochenschrift des Düsseldorfer
Schauspielhauses II 23, abgedruckt aus Der Eigene.
|