Sigismund
Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 341-346
Kleists Liebesleben
Kleists Auffassung von der Frau, ihrer Stellung und ihrem Beruf gibt sich deutlich
zu erkennen schon in den Briefen an seine Schwester aus der Studentenzeit. Das macht
gerade die Gefühlsergüsse an seine Schwester für uns so wertvoll. Für ihn ist das Weib
immer das schwache Wesen, das durch ihr Geschlecht gebundene und zurückgesetzt.
Kannst Du Dich dem allgemeinen Schicksal Deines Geschlechts entziehen, das nun
einmal seiner Natur nach die zweite Stelle in der Reihe der Wesen bekleidet? Nicht einen
Zaun, nicht einen elenden Graben kannst Du ohne Hilfe eines Mannes
überschreiten. Sei mein starkes Mädchen, apostrophiert er
Wilhelmine (20. August 1800) und Ulrike (26. Oktober 1803), wenn er es für
nötig hält, daß sie sich über die Schwäche ihres Geschlechts erheben. In dieser
Schwäche, in der dadurch bedingten Hingebung liegt für ihn der Reiz des Weibes, dem
gegenüber er sich als den Herrn der Schöpfung fühlt. Die Auffassung von der Frau als
der schwachen Geschlechtsgenossin, die durch die engen Grenzen, die ihrem Geschlecht
gesteckt sind, in äußere Bedrängnis und in schweren Konflikt gerät, spiegelt sich
wieder in den Dichtungen Kleists. Seine Alkmene, seine Marquise und in einem gewissen
Grade auch die Eva des zerbrochenen Kruges sind vollkommen reine weibliche Charaktere,
verwickelt in alle Folgen verletzter Keuschheit und in dem schweren Andrang äußerer
Bedrängnis siegreich durch die innere Macht der Unschuld. Das zärtliche, hingebungsvolle
und opferbereite Weib ist es, das Kleist anzieht, und solcherart muß die Liebe gewesen
sein, die er erstrebte und träumte. Das emanzipierte herrische Weib stößt ihn ab. In
jungen Jahren bekämpft er diese Eigenschaften <342:> bei seiner älteren Schwester,
in welcher Form sie hervortreten mögen, und in seinen letzten Lebensjahren wendet er sich
entsetzt und mit allen Zeichen des Abscheus von der befreundeten Hendel-Schütz, als sie,
seine Tischnachbarin, allzu aggressiv und unweiblich sich ihm nähert.
Wie Kleist in seinen Novellen die verfänglichsten Probleme in der
Beziehung der Geschlechter mit einer unerbittlichen Rücksichtslosigkeit gibt und
verfolgt, so dokumentiert er sein eigenes Seelenempfinden in seinen Briefen namentlich aus
der Jugendperiode mit der Unbescholtenheit eines Spartaners, mit der Unschuld eines
Kindes. Er schreibt von unruhigen Wünschen, die ihn unaufhörlich mahnen, und die
befriedigt sein wollen, sie stören ihn in seinen Beschäftigungen, und wenn er etwas
leisten soll, so muß sein Sexualdrang befriedigt sein, er muß bald, sehr bald ein Weib
haben. Dieses Verlangen nach einem Weibe wird das Leitmotiv in Kleists Leben. Von seiner
frühen Leutnantszeit bis in eine bestimmte spätere Lebensperiode wird ständig, wenn
auch häufig nur andeutungs- und gerüchtweise, von Liebesverhältnissen Kleists
berichtet. Von einer zärtlichen Beziehung aus der Potsdamer Garnisonzeit wissen wir
nichts, als was Kleist selbst darüber flüchtig gegen seine Braut erwähnt. In Frankfurt
lernt Kleist Wilhelmine von Zenge kennen, und es entwickelt sich zwischen den beiden ein
Liebesverhältnis, über dessen Entstehung, Verlauf und unglückliches Ende wir auf das
genaueste und jetzt nach der letzten Veröffentlichung aus der Krugschen Familie\1\ bis in alle Einzelheiten unterrichtet sind. Die schwer empfundene
Lücke, welche der Mangel aller Briefe der Braut bedeutete, ist zum großen Teil durch das
schöne und ausführliche Schreiben Wilhelmines ausgefüllt, in welchem sie ihrem zweiten
Verlobten, dem Professor Traugott Krug, die Geschichte ihres Verhältnisses zu Kleist
ausführlich berichtet. Das Ver- <343:> hältnis begann kurz nachdem Kleist die
Universität aufgesucht hatte und kurz nachdem die Familie Zenge nach Frankfurt gekommen
war. Wilhelmine war damals 18 Jahre alt. Ihr Vater, August Wilhelm v. Zenge, stammte
aus der Grafschaft Hohenstein, war 1737 geboren und hatte seine Dienstzeit in Berlin bei
dem damaligen Infanterie-Regiment von Forcade\1\
Nr. 23 durchgemacht, wo er in regelmäßigem Avancement bis zum Obersten befördert
wurde. Im September 1795 erhielt er das Kommando des Regiments, und am 5. Februar
1799 wurde er Chef des bisherigen Infanterie-Regiments von Grünberg Nr. 24 In
Frankfurt a. O., wo er im Mai desselben Jahres zum Generalmajor avancierte. Da
im gleichen Regiment Heinrichs älterer Bruder Leopold als Leutnant diente, so war sehr
bald ein geselliger Zusammenhang zwischen den Familien Zenge und Kleist hergestellt. Als
Unterlehrer des kleinen Kreises lernbegieriger Mädchen, der sich um ihn sammelt, lernt
Kleist zum ersten Male das beglückende Gefühl kennen, anderen von dem Reichtum seines
Geistes mitzuteilen und die Widerspiegelung in einem anderen Geiste zu beobachten. Um
dieses Gefühl festzuhalten, keimt in ihm der Wunsch, sich dieses Glück dauernd zu
sichern durch einen Lebensbund mit dem Mädchen, das durch einen feineren Sinn für
schöne Eindrücke zuweilen empfänglich erscheint. Diese ganz kurze Charakteristik und
der Vermerk, daß Wilhelmine ihm bisweilen mit Interesse zuhört, obgleich er nicht viel
von ihr erfährt, ist alles was Kleist an die vertraute Ulrike über seine geheime Braut
berichtet. Dies zu konstatieren erscheint mir wichtig, weil es den Schluß erlaubt, daß
Kleist auch in der Folge mit so kurzen, anscheinend nichtssagenden Bemerkungen über
Mädchen weitgehende Beziehungen andeutet. Kleist, der sich nach seiner eigenen
Schilderung in Gesellschaft ängstlich und beklommen fühlt, findet dem geliebten Mädchen
gegenüber nicht das entscheidende Wort und leitet <344:> die Beziehung zu ihr mit
dem schwächlichen Notbehelf eines Briefes ein. Wilhelmines anfänglicher Widerstand reizt
ihn, Wilhelmine schwankt in ehrlichem Zweifel, und Kleists Gefühl nimmt im gleichen Maße
an leidenschaftlicher Färbung zu.
Die ganze Eigenart Kleists leuchtet uns entgegen aus den beiden ersten
Briefen an Wilhelmine, in denen er sie noch mit Sie anredet, die offenbar in
der Briefsammlung der neuen Kleistausgabe falsch angeordnet (Brief 7 und 8 müssen
vertauscht werden), und die vom Herausgeber mit einer auffallenden Verständnislosigkeit
kommentiert sind. Der Tatbestand ist offenbar der folgende: Kleist hat zunächst bei dem
Vater Zenge um die Erlaubnis gebeten, mit seiner Tochter sprechen, mit ihr spazieren
gehen, mit ihr verkehren zu dürfen. Darauf bezieht sich die Bemerkung (Nr. 8), daß
sie jetzt, selbst in Gegenwart anderer, sich ihm nähern dürfe. Im näheren Umgang glaubt
er beobachtet zu haben, daß sie ihn liebe, und nunmehr hielt er im Briefe Nr. 8
schriftlich um sie an und bitte sie um die drei Worte: ich liebe Dich. Im weiteren
Verfolge des Briefes das ist echt Kleistisch trägt ihn seine
Phantasie fort, schon spielt in seine Phantasie das Liebesidyll hinein, das er später in
den verschiedensten Farben ausmalt, und schon auch läßt ihn der Ernst, mit dem er alles
anfaßt, an seinen künftigen Beruf denken, und er bittet Wilhelmine um ihre Ansichten und
Wünsche. In klaren Zügen tritt uns schon in diesen ersten Briefen der ganze Kleist
entgegen, wie er sich in der Folge während der Brautzeit entwickelt. Wilhelmine muß das
erlösende Wort gesprochen haben und nun, noch bevor er das vertrauliche Du anwendet, am
nächsten Tage schickt er mit einem Begleitschreiben (Nr. 7) den für den Vater
bestimmten Brief, seiner Braut ein. Sein rechtlicher Sinn will das Vertrauen, das ihm die
Eltern geschenkt haben (indem sie ihm den Verkehr mit der Tochter gestatteten) nicht
mißbrauchen, er sieht darin einen
Betrug der würdigen Eltern, und er macht es von ihrer Einwilligung
abhängig, ober er seine Braut mit Recht lieben darf oder gar nicht. Der
Inhalt der <345:> Briefe wird nur verständlich, wenn der Brief Nr. 7 dem
anderen nachgestellt wird.
Auf das kurze beglückende Zusammensein folgt eine Trennung von Jahren,
eine Trennung, die auf das Verhältnis der beiden nicht ohne Einfluß bleiben konnte. In
Frankfurt selbst, wo Kleist seine Braut täglich sah, war es ihm noch Bedürfnis ihr zu
schreiben, und nachdem er Frankfurt verlassen, beginnen die schweren, reichen, vollen
Ergüsse in Form langer Briefe, die uns der Einblick in den tiefen Schacht einer ganz
ungewöhnlichen Menschenseele gestatten. War Kleist ein leidenschaftlicher Liebhaber,
verrathen seine Briefe ein tiefes Gefühl für seine Braut? Schon Treitschke hat diese
Frage verneint, und der Eindruck ist derselbe geblieben, obgleich heute eine
umfangreichere Korrespondenz vorliegt. Der sophistisch-doktrinäre Ton in den Briefen mag,
wie Krug-Genthe will, dem Geschmack eines Zeitalters entsprechen, dessen Gesellschaft sich
an schönen Reden über die Veredelung des Menschengeschlechts und über Selbstveredelung
berauschte, und in dem gegenseitige Erziehung und Bildung das Brautpaarideal vorstellte;
was wir vermissen, ist jede Wärme des Gefühls. Wer wie Kleist mit der dürren Härte
eines Doktrinärs langatmige Betrachtungen an seine Braut schreibt und nur bisweilen,
gleich als ob er sich besinne, seinem Schreiben einige zärtliche Lichter aufsetzt, wer
seiner Braut den Zweck des Weibes mit einer gewissen Erhabenheit aber dabei ohne
Schmeichelei der Phantasie auseinandersetzt, wer die Bedeutung einer Gemeinsamkeit in
Liebe so ganz unverschleiert darlegt dem können wir ein wahres zärtliches
Gefühl nicht glauben, der empfindet nicht wahre Zuneigung. Kleist liebte in Wilhelmine
mit seiner dichterischen Phantasie das Bild, das er sich von ihrer geistigen
Vervollkommnung entwarf, mehr das Bild seiner Vorstellungen, als sie selbst in ihrer
Person, Wahrheit und Wirklichkeit. Während des persönlichen Zusammenseins mag sein
leidenschaftliches Verlangen nach einer Frau ihn in der Täuschung erhalten, während
seines Berliner Aufenthaltes mag die Nähe seiner Braut, die häufigen Reisen zu ihr,
<346:> der intime Zusammenhang mit der Familie durch den Verkehr mit Karl
v. Zenge das falsche Gefühl genährt haben; in der Fremde, unter frischen
Eindrücken schwand die Illusion, und diese Erkenntnis mag Kleist die Trennung, die so
eindruckslos und ohne jede nachhaltige Wirkung vorüberging, erleichtert haben.
\1\ Martha Krug-Genthe: Heinrich
v. Kleist und Wilhelmine v. Zenge. Journal of english and germanic
Philolog. VI. 03
\1\ Auch unter Heinrichs v. Kleist
Taufpaten findet sich ein Oberst v. Forcade.
Emendation
sieht] sieh D
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