BKA-Brandenburger Kleist-Ausgabe Start Übersicht Suchen Kontakt Andere interessante Websites Institut für Textkritik e. V.

[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

[ ]


R

Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 335-341

Kleists Liebesleben

III. Teil

Heinrich von Kleist und die Frauen.

Ich fühle, daß es mir notwendig ist, bald ein Weib zu haben – – – Wenn ich nur erst ein Weib habe, so werde ich meinem Ziele ganz ruhig und ganz sicher entgegengehen.
Kleist an Wilhelmine, 13. X. 00

<335: Leerseite> <336:>

I. Kapitel.

Kleists Liebesleben.

Wenn wir in den folgenden Blättern an die schwierige Aufgabe herangehen, Kleists Beziehungen zu den Frauen zu prüfen, so lassen wir uns dabei nicht bloß von dem Gesichtspunkt leiten, persönliche Erlebnisse der Vergessenheit zu entziehen, und das gerade nach dieser Richtung sehr lückenhafte Material der Kleistbiographien zu ergänzen, sondern wir wollen vor allem prüfen, wie weit und inwiefern der Dichter von den Frauen beeinflußt worden ist, wie sich sein Liebesleben in seinen Dichtungen widerspiegelt, wie weit Kleists psychisches Verhalten und damit sein Lebensschicksal von den Frauen bestimmt und geleitet worden ist. Will man an die Psychoanalyse einer Persönlichkeit herantreten, bei welcher psychische Schwankungen so stark in die Erscheinung treten wie bei Kleist, so ist es unvermeidlich, sexuelle Themata zu berühren, Thatsachen des normalen und abnormen Sexuallebens zu besprechen; das mag manchem anstößig erscheinen – wir erlauben dem Gynäkologen alles bei der leiblichen Untersuchung, sind aber außerordentlich empfindsam gegen die psychisch-sexuellen Explorationen der Psychologen – was schlimmer ist, man sieht darin eine Herabsetzung, eine Befleckung und Schmähung der Dichterpersönlichkeit. Wer tiefer hineinleuchten will in das Sexualleben, der wird sich damit trösten müssen, daß, pour faire une omelette, il faut casser des œufs. Daß ein solches Verfahren Anstoß erregt, ist unvermeidlich. Auch mein „Kleist-Problem“ ist diesem Schicksal nicht entgangen, soweit es sexuelle Fragen berührt hat. Meine Auseinander- <338:> setzungen sind auffallender Verständnislosigkeit begegnet, man hat mir Deutungen untergelegt, an die ich selbst nicht im entferntesten gedacht habe, man hat entgegen der von mir oft betonten Sittenreinheit Kleists und seiner lauteren Gesinnung behauptet, ich hätte seine Persönlichkeit in den Schmutz gezogen, und man hat schließlich meine vorsichtige Prüfung von Kleists Sexualtrieb eine „ekle“ neuropsychologische Studie getauft. Natürlich, wer sich daran genügen läßt, Nervosität, nervöse Reizbarkeit aus geistiger Überanstrengung zu erklären, wer sich noch nicht zu der Erkenntnis durchgerungen hat, daß alle solche Symptome auf die Intimitäten des psycho-sexuellen Lebens zurückzuführen sind, der wird empfindsame Gemüter verletzende Untersuchungen vermeiden können. Aber die strenge wissenschaftliche Kritik wird von solchen Prüfungen nicht absehen und wird nicht abstehen, die Dinge beim Namen zu nennen. Die Notwendigkeit, die Bedeutung der Frau im Leben Kleists richtiger und vollständiger zu erkennen, als es gegenwärtig der Fall ist, ergibt sich schon daraus, daß mit dem Tode Kleists die Erinnerung an Frauen verknüpft ist. Das ganze Kleist-Problem hängt unmittelbar zusammen mit dem Tode Kleists und damit auch mit einer vertieften Erkenntnis von der Beziehung Kleists zu den Frauen.

Wenn wir in den brieflichen Bekenntnissen Kleists seine Gedanken, Wünsche und Phantasien verfolgen, so kommen wir bald darauf, daß sie sich ohne Zwang in zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, solche welche die Erhöhung der Persönlichkeit bezwecken, oder Wünsche erotischer Natur. Das ist an sich nichts Auffälliges, denn die unbefriedigten Wünsche, als Triebkräfte der Phantasien bei allen Männern – beim Weibe wird der Ehrgeiz fast ganz vom Liebesstreben aufgezehrt, und es herrschen deshalb fast ausschließlich erotische Wünsche – bewegen sich namentlich in den Entwicklungsjahren in genau denselben Richtungen. Was den brieflichen Bekenntnissen ein so weitgehendes psychologisches <339:> Interesse verleiht, wie kaum ein anderes Dokument aus der ganzen Weltliteratur, ist, daß Kleists Wahrheitsliebe, seine unbeirrte Gefühlswahrheit die durchaus psychologischen Wünsche so klar zum Ausdruck bringt, und daß sein starkes Temperament die Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit – jede Phantasie ist eine Wunscherfüllung – mit ungewöhnlicher elementarer Kraft vornimmt. Es bedarf hierzu keiner Belege, fast auf jeder Seite seiner Briefe wiederholt Kleist in den mannigfachsten Kombinationen und Variationen seine drei Wünsche „wie ein Mönch seine drei Gelübde“, hinter denen sich immer Ehrgeiz und erotische Empfindungen verbergen. Wie Kleist mit verblüffender Offenheit sein Sexualempfinden klarlegt, das spricht nicht bloß für seine Gefühlswahrheit und Gefühlsreinheit, sondern auch für seinen unverfälschten Sinn, für die Reinheit und Naivität seiner Gedanken.
Das alles auf der Basis eines streng sittlichen Ernstes, gewissenhafter Ehrlichkeit, rücksichtsloser Selbstkritik, unerbittlicher Strenge. Wie viel dabei Naturanlage ist, was Erziehung, können wir nicht entscheiden. Die ganze Entwicklung Kleists zum Dichter ist so abweichend von dem, was wir sonst beobachten, daß wir wohl einer strengen, auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Erziehung einen großen Anteil beimessen müssen.
In der geschilderten Anlage Kleists, einerseits dem Ernst seiner Persönlichkeit, der Konsequenz seines Denkens, der Hartnäckigkeit seines Strebens, andrerseits der großen, ungebändigten Heftigkeit seiner Wünsche und Phantasien, liegt der Keim zu den Stürmen und Konflikten, die sein Leben heimsuchten. Bei einer so ernsten und schwerempfindenden Persönlichkeit konnte die tiefsten und nachhaltigsten Gemütserschütterungen nicht ausbleiben, wenn sein ehrgeiziges Streben, wenn seine Erotik keine Befriedigung fand. Dabei ist Ehrgeiz aufzufassen nicht sowohl als die Jagd nach äußerem Erfolge, als das Streben nach einer Vervollkommnung und gewissen dichterischen Zielen. Wir haben gesehen, wie vereitelte Hoffnung und das vergebliche Streben nach bestimmten Kunstidealen sein Wesen in seinen Grund- <340:> festen erschütterten und ihm dem Abgrund nahebrachten. Das Guiskard-Fiasko bedeutet den schwersten Schlag, der seinen Ehrgeiz treffen konnte. Wir wollen auf den folgenden Seiten das Liebesleben Kleists verfolgen und untersuche, wie weit das Leben seine erotischen Wünsche erfüllte; wir werden uns von vornherein sagen müssen, daß Enttäuschungen hier noch mehr als bei den ehrgeizigen Wünschen tragisch wirken müssen. Für das Glück der Liebe ist Kleist jederzeit bereit, allen Ruhm und allen Ehrgeiz aufzugeben (an Wilhelmine 21. Mai 1801).
Kleists vertrauteste Freundin, mit der er von früher Kindheit in achtungsvoller Liebe verbunden bleibt, die er als das edelste der Mädchen nennt, ist seine um vier Jahre ältere Schwester, die er in seinem ersten Briefe Ulrique, später Ulrike nennt. In Wirklichkeit war sie auf den französischen Vornamen getauft, den dann Kleist verdeutschte, wie aus der folgenden Eintragung in dem Garnison-Kirchenbuch hervorgeht.
Dem Herrn Joachim Friedrich von Kleist, Hauptmann vom v. Diringshofen’schen Infanterie-Regiment wurde hierselbst von seiner Ehegattin Caroline Louisa geb. von Wulffen am 26. sechsundzwanzigsten April Eintausensiebenhundertvierundsiebenzig 1774 (früh um 6 Uhr) eine Tochter geboren, welche am 3. Mai dess. J. die Nottaufe und die Namen
Philippine Ulrique Amalie
erhielt. (An dem Tage der Taufe den 3. Mai Vormittags um 10 Uhr ging die Mutter zur Ewigkeit, an den Frieseln in einem Alter von 19 Jahren.)
Taufzeugen waren
1. die Frau Hauptmann v. Manteuffel geb. v. Birkholz,
2. „ Fräulein von Pannwitz,
3. „ Fräulein von Borck,
4. „ Frau Professor Curtsen,
5. der Herr v. Borck, Student.
Was gerade Ulrike unter allen Geschwistern Kleist so nahe brachte, wird wie auch sonst in seinem Verkehr, die gleiche Stimmung in musikalischen Dingen gewesen sein. Daß Ulrike <341:> musikalisch war und auch die Musik ausübte, dafür bieten sich zwei Belege. Einmal hat Paul Hoffmann nachgewiesen, daß sie sich gegen ihr Lebensende am dem musikalischen Leben ihrer Vaterstadt beteiligte, und dann findet sich ein kurzer Hinweis bei Kleist (Brief an Karoline von Schlieben 18. Juli 1801) „Sie (Ulrike) ist eine weibliche Heldenseele, die – – – nach dem Takte spielt“.

[ R ]

[ ]

Copyright © 2000 by Institut für Textkritik e. V., Heidelberg
Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
[ Webdesign: RR 2000 ]