Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen
Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 240-245
Michael Kohlhaas und seine Quellen
Zwei Tage später in Nr. 83 derselben Zeitung von Sonnabend, dem
7. April 1827, folgt die erste Besprechung des neuen Trauerspiels von
v. Maltitz. In der Besprechung heißt es:
In unserer Zeitung ist aus der Chronik des alten
Schulrectors Haftiz die wahre Geschichte des Kohlhas mitgetheilt worden; Refer.
beabsichtigte, seinem Theater-Bericht eben diese Erzählung voranzuschicken, nur
nicht mit den eigenen, für manche Leser vielleicht nicht überall verständlichen Worten,
des in seinem Stil veralteten Chronikenschreibers, sondern so, wie, auf dem Grund dieser
Chronik, unser Herr Oberbibliothekar Wilken sie im historisch-genealogischen Kalender für
das Jahr 1820 giebt. Genug, Referent kann sich nun auf diese Erzählung lediglich beziehen
und darf über seine Behauptung, daß der Dichter das historische Factum
verändert, erweitert und Sachen und Personen von einer ganz anderen Zeit ihm beigemischt
hat, keinen weiteren Beweis führen. Herr v. Maltitz konnte sich für sein Verfahren
auf eine große Autorität, auf Lessing, berufen, aber Refer. bitten ihn dann, alles was
Lessing über diesen Punkt in der Dramaturgie ausführt, noch einmal recht aufmerksam zu
lesen; und er wird finden, daß die ganze, der dichterischen und überschminkten Freiheit
scheinbar so günstige Ausführung auf dem Satz beruht: Der Dichter braucht eine
Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern weil sie so geschehen ist, daß er
sie schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zweck besser erdichten könnte. Nun getraute
sich Refer. an einem für diese Untersuchung geeigneten Orte, mit guten <241:>
Gründen darzuthun, daß ohne die Einmischung von Anna Sydow, ohne ihren im Halbdunkel
bleibenden, von Kohlhas adoptirten Sohn, ohne die geheimnißvollen Zettel, und überhaupt
ohne die mystischen Ingedrienzien und geschichtswidrigen Anachronismen, aus der Geschichte
des Kohlhas nicht etwa nur ein gutes historisches, sondern auch ein wirksames
theatralisches Drama hätte gemacht werden können. Und damit hätte dann Refer. allen
Vortheil, den unser Dichter von Lessing ziehen mochte, beseitigt, und die Aussprüche
dieses großen kritischen Meisters gerade für sich gewonnen. Allerdings hat der
unvergeßliche Heinrich v. Kleist in seiner vortrefflichen Erzählung das Thun und
Lassen des Kohlhas auch in eine geheimnißvolle Leitung gehüllt, und namentlich hat den
bewußten Zettel der dramatische Dichter wahrscheinlich von ihm geborgt; aber dieser
ist viel weiter gegangen, und nicht alles, was dem Novellisten zu Gute kommt, ist dem
Dramatiker vergönnt usw. usw.
Die Kritik des Maltitzschen Stückes, die ich soweit
wiedergebe, als sie Kleist in die Besprechung hineinzieht, hat für uns kaum mehr als
historisches Interesse. Kuh nennt in einer Fußnote den Hans Kohlhas von
Maltitz ein possirliches Drama und schreibt dazu: den Junker, welchen Kleist
von der Trencke taufte, finden wir bei Maltitz als Günther von Zaschwitz
historisch getreu! wieder. Weit interessanter für die Frage, die uns hier
beschäftigt, ist das wenige Tage später in der Nr. 86 vom Mittwoch
d. 11. April abgedruckte Eingesandt von dem Kriegsrath Wohlbrück\1\ unter dem Titel Über das
Geschichtliche von Hans Kohlhas, mit Rücksicht auf das Trauerspiel dieses Namens.
Der Aufsatz enthält in seinen wesentlichen Teilen folgendes:
Was man von Hans Kohlhas weiß, beruht
hauptsächlich auf der Erzählung des Peter Hafiiz, ehemaligen Oberaufseher der
Schulen zu Berlin und Kölln, in <242:> seinem ungedruckten Microchronicon
Marchicum. Diese Erzählung ist vor Kurzem in einigen Blättern dieser
Zeitung (s. oben) wörtlich und meistens vollständig, jedoch nicht nach einer
Handschrift des Haftiz, sondern nach dem in Schöttgens und Kreysigs Nachlese
der Historien von Ober-Sachsen, Th. III, befindlichen Auszuge abgedruckt, und in
diesem Abdrucke sind einige in der erwähnten Nachlese befindliche Noten, ohne
deutliche Auszeichnung, eingeschaltet worden. Auch leidet der besagte Abdruck an mehreren
Druck- oder Schreibfehlern, von denen die erheblichsten in folgender Art zu verbessern
sind. Nachdem er die Fehler berichtigt, fährt Wohlbrück fort: Haftiz war ein
Zeitgenosse, wenigstens fiel seine Jugend in die Zeit der Kohlhasischen Umtriebe, und
seine Erzählung hat alle inneren Zeichen der Glaubwürdigkeit. Inzwischen giebt dieselbe
nur von zwei Ereignissen die eigentliche Zeit an, von der Hinrichtung der zwei
Schneidergesellen, am 7. Junius 1538, und von Kohlhasens Hinrichtung am
22. März 1540. Ganz zweifelhaft läßt sie es, in welchem Jahre dem Kohlhas seine
Pferde in Sachsen angehalten wurden, und in welchem dieser seine Befehdung des
Nachbarlandes anfing. Leuthinger, ein späterer Brandenburgischer
Geschichtsschreiber, der im Jahre 1612 starb, spricht von dieser Befehdung bei den Jahren
1523 und 1531, aber ohne bei irgend einem einzelnen Ereignisse ein bestimmtes Datum
anzugeben. Er ist überhaupt bei seinen Zeitbestimmungen öfters sehr unzuverlässig, und
bringt bei dem zuletzt erwähnten Jahre mehrere Facta aus ganz verschiedenen Zeiten,
selbst Kohlhasens endliche Bestrafung an.
Nachdem Verfasser wortgetreu ein Schreiben des
Kurfürsten von Sachsen an den Landvogt der Niederlausitz vom 3. August 1538 (Destinata
litteraria et Fragmenta Lusatica Bd. I, S. 1202f.)
wiedergegeben hat, fährt er fort:
Aus dieser für die Geschichte der Kohlhasischen
Händel überhaupt sehr wichtigen und lehrreichen Stelle geht wohl deutlich hervor, daß
diese Händel schon einige (aber doch nicht fünfzehn) Jahre vor 1538 ihren Anfang
genommen haben <243:> müssen, und man möchte daher die bestimmteste Nachricht
über diesen Anfang in des Balthasar Mentz, eines ehemaligen Professors zu
Wittenberg, Kurtzen Erzehlung vom Ursprung und Hehrkommen der Chur und Fürstlichen
Stämmen, Sachsen, Brandenburg, Anhalt und Lauenburg etc. Wittenberg 1597, zu finden
glauben, in welchem, mit Seitenzahlen nicht versehenen Buche, Blatt Mv angegeben ist, daß die Kohlhasische Fehde bald nach dem im Jahre 1532 erfolgten
Regierungsantritte des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen ihren Ursprung genommen,
und daß namentlich bereits im Jahre 1533 Kohlhas einen Krähmer von Wittenberg, welcher
nach Jueterbock zum Jahrmarkte fahren wollte, angehalten und aller seiner mit sich
geführten Waaren beraubt habe. Unbemerkt darf jedoch nicht bleiben, daß Mentz an einem
andern Orte desselben Buches, Blatt C vi, angiebt, der
Kurfürst Joachim I. von Brandenburg habe im Jahre 1533 den Hans Kohlhas hinrichten
lassen, wodurch des gedachten Schriftstellers Genauigkeit und Sorgfalt wieder sehr
zweifelhaft wird.
Verf. weist dann darauf hin, daß von allem, was zur
Geschichte des Hans Kohlhaas gehört, die Gefangennehmung des George Reich durch einige
amtliche Schreiben, welche in den erwähnten Destinatis litterariis a. a. O. abgedruckt sind, am genauesten nach ihren Umständen bekannt
sind. Der Aufsatz schließt mit einigen Bemerkungen über die in dem von Maltitzschen
Trauerspiele vorwaltenden Verstöße gegen die Geschichte, welche nicht schon aus des
Hafitz Erzählung hervorgehen und mit einigen sehr lesenswerten Notizen zur Geschichte des
Kohlhaas. Wir sehen aus dieser Darstellung, daß Wohlbrück hier schon im Jahre 1827, also
lange vor Kuh die Quellen zum Kohlhaas so eingehend und erschöpfend behandelt, allerdings
ohne Kleists Novelle auch nur zu erwähnen, wie es von keiner anderen Seite geschehen ist.
Wir finden hier Haftiz Microchronicon, Schöttgens und Kreysigs Nachlese, Leutinger und
Mentz erwähnt, die nach Kuh Kleist bekannt gewesen sein müssen und zudem die
Destinata
litteraria. <244:>
Der volle Titel des Buches ist: Destinata
Litteraria et Fragmenta Lusatica\1\
d. i. Unternehmungen der Gelehrten, und gesammelte alte auch neue zur
Nieder-Lausitzischen Historie und Gelehrsamkeit gehörige Stücke Lübben 1738.
Im XII. Teil des I. Bandes (pag. 1197)
findet sich eine Arbeit unter dem Titel: Verdienste des Marggraffthums Nieder-Lausitz
gegen Wittenberg durch schleunige Rechts-Hülffe.
Der für die Affäre Kohlhaas sehr wichtige Aufsatz
bringt den wortgetreuen Abdruck einer großen Anzahl von Schriftstücken mit
Erläuterungen, die sich auf die Verfolgung Kohlhaases beziehen. Dazu gehören:
Chur-Fürstl. und des Landvoigts von Sachsen Hans Metschen, auch des Raths zu Wittenberg,
requisitions Schreiben an den Landvoigt in Nieder-Lausitz Heinrich Tunckeln, Hrn von
Bernitzko. Ferner Schreiben an den Bischoff von Lebuse. Bericht des Bischoff von Lebuse an
den Landvoigt Tunckeln (über die Attrapirung Kohlhasens, dem der beraubte und
gefangene Wittenbergische Kaufmann Reichen abgejagt wurde, ebenso sein Diener, dahingegen
er selbst als ein starker Mann in Hose und Jope entrann, in deinen nahestehenden Kahn fiel
und über die Spree entkam). Ein Schreiben des Bischofs an den Landvoigt und mehrere
andere Schreiben, welche sich auf die Verfolgung und Auslieferung Kohlhaases beziehen.
Wichtiger als der Inhalt aller dieser Briefe ist die in
der Einleitung und auch in der Brieferläuterung gegebene Darstellung zum Fall Kohlhaas
und der Hinweis auf die übrigen chronikalischen Darstellungen und ihre Kritik. Es heißt
in der Einleitung: Welcher gestalt ein Bürger aus Berlin Hans Kohlhase, zur Zeit
der Reformation die Kühnheit gehabt, den Chur-F. zu Sachsen Hertzog Johann Friedrichen,
und dessen Unterthanen mit Feuer und Raub zu befehden, auch wie endlich zu
D Luthern gekommen, und auf dessen Zureden in <245:> Gegenwart Philipi
Melanchtonis und des Wittenbergischen Theologen Besserung versprochen, auch von Luthero
das heilige Abendmahl darauf empfangen, nichts destoweniger aber nachhero sich weiter,
auch an seines eigenen Landes-Hrn. Factor vergriffen und selbigen beraubt, darüber
endlich zur Hafft gediehen, und Anno 1540, Montags nach Palmarum. (22. III.) zu
Berlin mit dem Rade justificiret worden, das alles hat M. Petrus Hafftitius weyl.
Rector bey der Schulen zu Berlin, und zu Cöln an der Spree in der Märkischen Chronic
welche noch ungedruckt, und nur in MSCT. befindlich
ist * weitläufttig beschrieben, woraus die belobten Sächßischen Historici
Christian Schöttgen und Georg Christoph Kreysig, einen Extract genommen, und solchen
ihrer Diplomatischen Nachlese, von der Ober-Sächßischen Historie P. III. num. 5.
p. 528. sequ. einverleibet. Dazu findet sich bei * die folgende Fußnote:
M. Petrus Hafftitius hat unter denen Märckischen Historicis einen guten Nahmen, und wird von vielen als ein glaubwürdiger Annaliste
allegiret; weil er aber ein und anderes dem ansehen nach bedenkliches von seinem eigenen
Landes-Herren und deren Brandenburgischen Sachen mit einfließen lassen hat sich bis dato
wircklich niemand unterstanden seine Wercke zu publiciren. Es werden seine Werke
angeführt und auch die Bemühungen von Gelehrten jener Zeit erwähnt die Werke zu
veröffentlichen.
\1\ Siegmund Wilhelm
Wohlbrück, preuß. Kriegsrat, bekannt durch seine Geschichte des ehemaligen Bistums Lebus
und des Landes seines Namens und durch die Geschichte der Altmark.
\1\ Burkhardt zitiert in einer
Fußnote die Destinata, läßt sie aber im Text völlig
unerwähnt.
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