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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 245-251

Michael Kohlhaas und seine Quellen


Ich fasse meine Meinung über die Bedeutung der Arbeit in den Destinata litteraria dahin zusammen, daß sie für den historischen Kohlhaas eine außerordentlich wichtige Quellenschrift ist, denn sie bringt zahlreiche Dokumente über einen bestimmten Abschnitt seines Lebens, während die übrigen Quellen subjektiv gefärbte Darstellungen von Chronisten und Historikern sind. Kleist hat zweifellos aus dieser Quelle nicht geschöpft, denn er bringt nichts, was sich auf den Einfall Kohlhaases in die Lausitz, auf seine Gefangennahme usw. bezieht. Kurz, der Inhalt seiner Novelle hat nicht die mindeste Beziehung zu dem hier veröffentlichen Material. Deshalb ist es aber nicht ausgeschlossen, daß er die Arbeit gekannt hat. Da er hier gleich im Eingang der <246:> Arbeit die von ihm zweifellos benutzten Quellenschriften angeführt fand, so wäre es nicht ausgeschlossen, daß er sich über diesen Punkt hier zuerst orientiert hat.
Kehren wir zurück zu der Artikelserie in den Berlinischen Nachrichten. Mit dem besprochenen Aufsatze Wohlbrücks waren – ein Beweis dafür, wie sehr sich das Berliner Publikum für den Kohlhaas interessierte – die eingesandten Beiträge noch nicht erschöpft. Es folgte in Nr. 89 der Zeitung am Dienstag, den 17. April 1827, nicht unterzeichnet „Noch ein Nachtrag zu den Notizen über Kohlhas.“
„Die Erzählung der Geschichte des Roßkamms Kohlhase, heißt es da, hat die Aufmerksamkeit des Publikums dergestalt auf sich gezogen, daß es nicht überflüssig seyn dürfte, zu den in diesen Blättern früher gelieferten Auszügen und Aufsätzen, noch dasjenige beyzufügen, was in einer Abschrift der Chronik des Haftitz über die Schicksale der Familie des Kohlhase vorkommt. Es folgt nämlich am Schlusse des in diesen Blättern abgedruckten Auszugs Nachstehendes:
„Seine Wittibe hat hiernach einen Schuster zur Ehe bekommen, welcher in einer hitzigen Krankheit, da man seiner nicht gut Acht gehabt, sich hinter seinen Hause in der Spree hat baden wollen und aus Unvermögen ist ertrunken. Ihre Tochter, so sie mit Kohlhasen hat gehabt, hat Frau Hedwig, gebohren aus Königl. Stamm zu Pohlen und Churfürstin zu Brandenburg bei sich in der Kammer gehabt, daß sie ihr Handreichung thun müssen, wann sie Borten gewirket, bis sie endlich eines Bürgers Sohn zu Berlin, Wolff Golnau genannt, zur Ehe bekommen, hat’s aber nicht gut gemacht, sondern ist endlich vom Mann gelauffen.“ Hierauf folgen noch einige andere kurze Bemerkungen zur Brandenburgischen Geschichte.
Ich habe dieses letzte Eingesandt wörtlich wiedergegeben, um den auffälligen Unterschied vorzuführen zwischen Kleists Novellen und der Haftizschen Vorlage. Kohlhaasens Hausfrau soll nach anderen Berichten zwei tote Kinder geboren haben. Gleichgiltig, ob eine Tochter die Eltern überlebte, oder ob <247:> das Kohlhaasensche Ehepaar keine leiblichen Erben hinterließ, es ist auffallend genug und sonderbarerweise bisher in der Forschung völlig außer acht gelassen, daß Kleist gerade hierin in der Erzählung selbst und besonders in dem chronikalisch gehaltenen Schluß so völlig von seiner Vorlage abweicht. Kleist erzählt, daß Kohlhaas zwei Söhne hinterließ, die der Hinrichtung des Vaters beiwohnen mußten, und daß sie bei dieser Gelegenheit vom Kurfürsten Joachim II. in den Adelstand erhoben wurden. Und er schließt dann seine Novelle mit den Worten: „Vom Kohlhaas aber haben noch im vergangenen Jahrhundert, im Mecklenburgischen, einige frohe und rüstige Nachkommen gelebt.“
Ist Kleist bei diesem Abschluß seiner Novelle selbständig verfahren oder schöpfte er aus einer bestimmten, bisher nicht berücksichtigten Quelle? Eine Aufklärung finde ich in einem „Jugenderinnerungen aus Oberschlesien“ betitelten Aufsatz von Prof. Dr. Herm. Wedding in der Zeitschrift „Oberschlesien“ I. Jahrgang 11. Heft Februar 1903\1\. Der Aufsatz bringt Familienerinnerungen, die sich teils mündlich, teils schriftlich durch Jahrhunderte fortgeerbt haben, und welche erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf unzweifelhaften Grundlagen beruhen. Die Vorfahren dieser Familie, die Weddinge, hausten im Norden Berlins an der Stelle, wo sich jetzt die St. Sebastianskirche auf dem Gartenplatz, dem früheren Galgenplatz, erhebt in einer mit Wallgraben umgebenen Burg. Die Familienchronik erzählt, daß sich ein Nachkomme dieser Weddinge am Schauplatz der Hinrichtung von Kohlhaas befunden habe, daß er die beiden Söhne des Mordbrenners in seine Obhut genommen, wie wohl erzogen und dann, da man im Lande selbst ihres Vaters Übeltaten nicht vergessen konnte, weggesandt habe. Der eine gründete eine Familie in Mecklenburg, deren letzte Sprossen im Anfange des 19. Jahrhunderts gestorben sind, während der <248:> zweite nach Böhmen ging und dort seinen Namen umänderte in die Schreibweise Koulhasz; das Geschlecht des letzteren verbreitete sich über Böhmen und das benachbarte Schlesien.
Soweit über die Familienchronik, mit welcher die Erzählung Kleists in drei wichtigen und entscheidenden Punkten völlig übereinstimmt. Hier wie bei Kleist wird ganz unabhängig von Haftiz von zwei überlebenden Söhnen des Kohlhaas berichtet. Bei beiden findet sich der Hinweis auf Mecklenburg. Und wenn Kleist scheinbar absichtslos hinzufügt, daß in Mecklenburg im 18. Jahrhundert frohe und rüstige Nachkommen lebten, so bestätigt er damit die Familienüberlieferung, nach welcher mit dem 19. Jahrhundert dieser Zweig der Familie ausstarb. Es ist klar, daß hier keine zufällige Übereinstimmung vorliegen kann, und daß den Dichter außer den vorher berührten wissenschaftlichen Quellen die Familientradition bestimmt und beeinflußt haben muß.
Damit kommen wir zu der Frage zurück, mit welcher wir unsere Untersuchung eingeleitet haben. Hat sich Kleist wirklich durch die Erzählung Pfuels zur Abfassung seiner Novelle bestimmen lassen? Die Behauptung, daß Kleist seinem Freunde Pfuel, der ihm zuerst davon sprach, den Stoff des „Michael Kohlhaas“ verdankt, ist seit der Angabe Tiecks anstandslos von allen Forschern aufgenommen worden, ja nach Burkhardt soll Kleist überhaupt nicht einem fixierten Bericht gefolgt sein, sondern sich mit dem begnügt haben, was ihm der Freund von Kohlhaasens Geschichte mündlich erzählte. Nach meiner Darstellung glaube ich demgegenüber behaupten zu können, daß Pfuel nichts mit der Konzeption und der Bearbeitung des Kohlhaas zu tun hat, sondern daß die Anregung Kleist von einem Mitglieder der Familie Wedding erhalten hat, in welcher die Tradition bis heute lebendig geblieben ist. Damit kommen wir auf die weitere Frage: Ist die Möglichkeit vorhanden, daß Kleist mit einem Mitgliede der Familie Wedding in persönliche Beziehungen trat, in welche Zeit fallen diese Beziehungen, und um welches Mitglied der Familie Wedding kann es sich dabei <249:> gehandelt haben? Daß Kleist mit einem Mitglieder der Familie Wedding befreundet war und von diesem Anregungen zu seiner Novelle erhielt, ist sicher. Ich stütze mich dabei auf persönliche Informationen, auf die ich unten zurückkomme. Das Familienmitglied, um welches es sich handelt, heißt Johann Friedrich Wedding, der Großvater des in diesem Jahre verstorbenen Geheimen Bergraths Prof. Dr. H. Wedding in Berlin, von dem die oben angeführte Arbeit in der Monatsschrift „Oberschlesien“ stammt. Über J. F. Wedding bringt aufschlußreiches Material eine Arbeit des letztgenannten Prof. H. Wedding in den Verhandlungen des Vereins zur Förderung des Gewerbefleißes: Johann Friedrich Wedding, ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Eisenhüttenwesens (Kgl. Staatsarchiv in Breslau).
Geboren im Jahre 1759 zu Lenzen in der Priegnitz erhielt dieser Wedding seine Schulbildung in Berlin im Gymnasium zum grauen Kloster und machte dann seine praktische Lehrzeit durch auf den damals zahlreichen kleinen Eisenwerken des flachen Landes zwischen Elbe und Oder, besonders in der Neumark. Im Jahre 1779 trat er in Kgl. Preußischen Staatsdienst als Baukondukteur und baute als solcher den Finow-Kanal. Mit dem Jahre 1784 kam er im Auftrage der Regierung nach Oberschlesien, wo er sich große Verdienste um die Entwicklung des Hüttenwesens erwarb. Hier heiratete er die älteste, und als diese nach kurzer Ehe starb, die zweite Tochter des Kommisionsrats Koulhaascz, des „biederen Koulhaascz“, wie er in Oberschlesien genannt wurde\1\, eines um die oberschlesische Industrie hochverdienten Mannes, des letzten Sprosses aus dem Geschlechte des berühmten Zeitgenossen Luthers. Er hatte damals seinen Wohnsitz in Stahlhammer bei Tarnowitz, kaufte später das Gut Kattowitz, das nach seinem Tode in den Besitz der Familie Wedding\2\. Durch ein eigenes Geschick war also ein Nachkomme der Weddinge, die einst Kohlhaasens Söhne in <250:> Pflege genommen, etwa 150 Jahre später in die engste Familienbeziehung zu dem letzten Sproß dieser Familie getreten.
Wie ich aus dem Munde des kürzlich verstorbenen Kgl. Baurats Prof. Dr. Wedding vernommen habe, hat sein Großvater, eben dieser Johann Friedrich Wedding, durch doppelte Familienbeziehungen interessiert an der Persönlichkeit und dem Geschick Hans Kohlhaases, sich Zeit seines Lebens gegen den in den Berliner Chroniken tendenziös gefälschten Sachverhalt über Leben und Tod Kohlhaases aufgelehnt. Auch hörte ich von ihm, daß in seiner Familie die Tradition zu allen Zeiten treu gewahrt wurde, und daß bei allen Familientagen und anderen Gelegenheiten der Zusammenhang der Weddings und Kohlhaases den beliebtesten Gesprächsstoff abgab. Daß sein Großvater, Johann Friedrich, wirklich mit Kleist zusammengetroffen ist, dafür ist ein Dokument nicht vorhanden. Doch es steht außer Zweifel, daß sich eine Gelegenheit hierzu wiederholt geboten hat, denn Wedding, von der Regierung nach Oberschlesien entsandt, wurde besonders in Angelegenheiten des Finow-Kanals nach Berlin berufen. Kleist begann seine Novelle in Königsberg, vorher in Berlin wird er die Anregung von Wedding erhalten haben. Beide standen damals in Diensten der Regierung, und zu persönlicher Annäherung und Bekanntschaft bot sich reichliche Gelegenheit. Wedding fand in Kleist den lange gesuchten Dichter, der seinen Intentionen entsprechend an die Abfassung der Chronik Kohlhaases heranging.
Auf diese Weise entstand in Königsberg der erste Teil des Michael Kohlhaas, der nach Auffassung und Darstellung immer schon als eine fast vollendete historische Erzählung erschien, und wie wir nunmehr wissen auch tatsächlich eine solche ist. Kleists Novelle steht entschieden über der Haftizschen Chronik. Seine Sympathie gilt von vornherein seinem Helden, den er in seinen Charakter- und moralischen Eigenschaften weit höher stellt als die Chronisten. Das liegt nicht bloß in der Anlage und dem Bau der Novelle, sondern war das ursprüngliche Motiv, das ihn veranlaßte, auf die Anregung Weddings hin an den Stoff <251:> heranzugehen. Als er dann neue Anregungen aus Haftiz und Leutinger und vielleicht auch anderen Quellen erhielt, als er in Dresden seinen patriotischen Haß gegen den sächsischen Hof Ausdruck zu verleihen suchte, da trat der Dichter, welcher seinen Stoff mit seinem eigenen starken Wesen durchsetzt, immer mehr an die Stelle des getreulich berichtenden Chronisten; das Mystisch-Phantastische, wie es Kleist für seine Zwecke brauchte, überwiegt. Am Schluß der Novelle wieder tritt deutlich der Einfluß der Familientradition zutage. Kohlhaas wird nicht auf das Rad gelegt, sondern durch das Schwert hingerichtet, die Erzählung endet wahrheitsgemäß mit dem Hinweis auf die überlebenden Söhne und auf das Schicksal des Mecklenburgischen Zweiges der Familie Kohlhaas.
Es ergibt sich aus meiner Darstellung, daß das Material über den historischen Kohlhaase mancher Berichtigung bedarf. Das bisher unbenutzte dokumentarische Material in den Destinata litteraria et Fragmenta Lusatica ist eine wesentliche Bereicherung gegenüber den entschieden sehr ungenauen und subjektiv gefärbten Berichten der Chronisten. Das gleiche gilt für die Familienchronik, welche uns das Schicksal der Kohlhaaseschen Nachkommen bis an ihr Ende im Anfang des vorigen Jahrhunderts verfolgen läßt. Die Kommentare zu der Novelle Kleists werden nach den Gesichtspunkten geändert werden müssen, die sich aus meinen Ausführungen über die Entstehung und die Anregung zu der Novelle ergeben. Es ist nicht ein Zufall, daß Kleists Erzählung trotz aller Verstöße gegen die historische Wahrheit doch im wesentlichen als echt historischer Stoff gegolten hat und noch zu einer Zeit, in der die Quellen der Erzählung sehr wohl bis ins einzelne bekannt waren. Das liegt nicht nur an der sinnlichen Deutlichkeit, mit der alle Ereignisse bis ins kleinste Detail verfolgt sind, sondern vor allem auch darin, daß durch die Familienchronik Kleist in der Tat historisch genauer unterrichtet war als die Chronisten.

\1\ Bei Schmidt ungenau zitiert.
\1\ Georg Hoffmann in Geschichte der Stadt Kattowitz. Kattowitz 1895.
\2\ Ich weise darauf hin, daß das Kgl. Archiv zu Breslau über diesen letzten Kohlhaase viel aufschlußreiches, bisher unbenutztes Material besitzt.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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