Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen
Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 230-235
Kleists Kämpfe um den Robert Guiskard. Kleists Kunstideal
Und unmittelbar darauf folgt, wie eine Reminiszenz aus der
Geschichte seiner Seele:
In diesem Falle (d. h. wenn er sich von dem
Drange widerwärtiger und verstimmender Verhältnisse befreien könnte) würde ich die
Kunst vielleicht auf ein Jahr oder länger ganz ruhen lassen und mich, außer einigen
Wissenschaften, in denen ich noch nachzuholen habe, mit nichts als Musik beschäftigen.
Denn ich betrachte diese Kunst als die Wurzel, oder vielmehr, um mich schulgerecht
auszudrücken, als die algebraische Formel aller übrigen, und so wie wir schon einen
Dichter haben mit dem ich mich übrigens auf keine Weise zu vergleichen
wage , der alle seine Gedanken über die Kunst, die er übt, auf Farben bezogen
hat, so habe ich von meiner frühesten Jugend an, alles Allgemeine, was ich über
die Dichtkunst gedacht habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, daß im Generalbass die
wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten sind.
Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, wie diese
Briefstellen zu deuten sind. Der Dichter drückt kurz vor seinem Tode die Absicht aus, auf
dramatische Pläne zurückzukommen und Ideen wieder aufzugreifen, die ihn schon früher
beschäftigt hatten, und wenn er in der Folge betont, daß er, sobald es angängig ist,
die Poesie ruhen zu lassen und sich zunächst lange Zeit mit nichts als Musik
beschäftigen wolle, so ist es klar, daß seine Pläne und Absichten dort wieder
anknüpften, wo er mit der Vernichtung des Guiskard geendet hatte. Von neuem also schwebte
ihm das musikalische Drama vor. Kleist steht in einem neuen Stadium seiner Entwicklung.
Als gereifter Mensch und anerkannter Dichter kommt er auf die Ideen seiner Jugend zurück,
er fühlt sich im Vollbesitz seiner dramatischen Kraft, aber er ist sich auch bewußt
geworden, daß sein musikalisches Können nicht ausreicht, und er
besitzt <231:> Selbstkritik genug, um die Notwendigkeit jahrelanger
musikalischer Studien zu erkennen. Wie ein dichterisches Vermächtnis und Testament, so
muten uns die zitierten Briefstellen an. Sie zeigen uns den Dichter auf einer Höhe
geistiger und ethischer Entwicklung, wie nie zuvor. Die Sturm- und Drangperiode ist unter
schweren Kämpfen überwunden. Der Dichter, der sich im Vollbesitz seiner Kraft fühlt,
sich mit bestimmten Zukunftsplänen trägt und nicht an sein Ende oder gar an ein
willkürliches Ende denkt, schüttelt die Sünden seiner Jugend ab. Wie er die Größe
Goethes anerkennt, mit dem er sich einst messen wollte, und dem er sich jetzt willig
unterordnet, so ist der titanenhafte Drang, der den Göttern grollte, der Resignation und
der Erkenntnis gewichen, daß sein früheres Fiasko nicht dem mangelhaften Talent, sondern
dem unzureichenden musikalischen Können zuzuschreiben war.
Die Bedeutung von Kleists Aussprüchen über die Musik
ergibt sich aus dem, was wir über seine und anderer hervorragender Dramatiker
Produktionsweise wissen. Die dramatische Einbildungskraft, die Konzeption des Dramatikers
entspringt einer musikalischen Stimmung. Die Musik ist es, an der sich gewissermaßen die
dichterische Phantasie entzündet; die musikalische Stimmung befruchtet die dichterische
Phantasie. Darum muß Kleist diese Kunst als die Wurzel aller übrigen betrachten
(s. o.).
Die Musik stellt nach Kleist die algebraische Formel der
anderen Künste dar. Wir werden erinnert an Pythagoras Bemühung, die Harmonie aus
dem Zahlenverhältnis zu erklären, und an Leibniz Definition der Musik als
exercitium
arithmeticae occultum nescientis se numerare animi. Kleist, der neben
philosophischen hauptsächlich mathematisch-physikalische Studien betrieb, hat
frühzeitig, wie auch diese Briefstelle beweist, über die algebraische Analyse der
Sprache, der Poesie und ihr Verhältnis zur Melodie nachgedacht. In einer Äußerung
Rühles (s. S. 31) die sicher auf die Anregung Kleists zurückzuführen ist, die
Geist von seinem Geiste bedeutet, findet sich eine aufklärende Analogie <232:> zu
Kleists mysteriöser Äußerung. Rühle vertritt hier die seiner Zeit weit vorgeschrittene
Anschauung, daß der Mathematik in der Wissenschaft nicht der gebührende Rang eingeräumt
ist und will sie betrachtet wissen als erste und Grundwissenschaft.
Die Ansicht Kleists am Schlusse seiner Ausführungen,
daß im Generalbaß die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten sind,
bedeutet, daß das Studium der musikalischen Harmonie dem Dichter eine tiefere Einsicht
und ein besseres Verständnis für den Klang und Rhythmus in der Poesie eröffnet, und
daß dadurch wiederum die dichterische Phantasie angeregt und befruchtet werde.
Ich resümiere kurz meine Auffassung von der Bedeutung
des Guiskard, von den seelischen Störungen Kleists in der Guiskard-Periode, von seinem
freiwilligen Verzicht. Das Studium der größten Dramatiker wenn nicht aller,
so doch des überwiegenden Teils belehrt uns darüber, daß der musikalische
Eindruck bei ihnen Phantasiebilder hervorruft, die in folgerechter Verknüpfung sich über
den unmittelbaren Eindrucksgehalt der Musik hinaus entwickeln, und daß in diesem Sinne
der musikalische Eindruck bei ihnen die dramatische Konzeption bedingt. Den Äußerungen
der Dramatiker entnehmen wir, daß ihnen allen diese Erscheinung aufgefallen ist, daß sie
aber alle darüber hinweggehen, ohne ihr ein besonderes Gewicht beizulegen. Unter allen
Dramatikern zeigt Kleist die ausgesprochenste musikalische Veranlagung, er beschäftigt
sich von Jugend auf als ausübender Musiker, er kennt die Gesetze der Musik, äußere
Anregungen erwecken bei ihm die üppigsten Gehörserregungen. Kein Wunder, daß er schon
frühzeitig über Probleme nachdachte, über die andere Dichter und Dramatiker achtlos
hinweggingen. So entstand bei ihm der Plan zu einem musikalischen Drama und die Absicht,
den ganzen Guiskard-Stoff auf einer musikalischen Unterlage aufzubauen. Mit der ganzen
Wucht seines Temperaments wirft er sich auf die neue Aufgabe, deren weittragende Bedeutung
er voll <233:> erfaßt. Was er vorher geschaffen, verwirft er als elende
Scharteke, und er ist sich des großen Fortschrittes seiner Entwicklung so ganz bewußt,
daß er ohne eitle Selbstüberhebung glaubt, Goethe den Kranz von der Stirn reißen zu
können. Wieland, selbst auch eine sehr musikalische Natur, war wie kein anderer berufen,
die Bedeutung von Kleists Guiskard zu erfassen und äußert sich über ihn in Ausdrücken
voller Begeisterung. Kleist resignierte zunächst und trat vor einem zurück, der noch
nicht da war, und vor dessen Geiste er sich ein Jahrtausend im voraus beugte. Aber auch das
Guiskard-Rudiment läßt uns die Absichten des Dichters erkennen, es bedeutet ein
musikalisches Drama, das vom kunsttheoretischen Standpunkt weit das Drama Wagners
übertrifft, und das alles erfüllt, was ein Nietzsche, ein Hebbel, ahnten.
Nur von diesem Standpunkt aus können wir Kleists eigene
Auffassung von seinen Dramen und seinen dichterischen Leistungen verstehen, und von diesem
Standpunkt auch gelangen wir zu der Überzeugung, daß Kleists Äußerungen nichts von
Selbstüberhebung an sich tragen. Als ihn die Pläne zu seiner Entdeckung auf dem Gebiete
der Kunst, wie er sie nennt, zu beschäftigen beginnen, verwirft er sein im Druck
erschienenes Jugenddrama. Er ist sich bewußt, etwas Neues, Überraschendes schaffen zu
können, das einen großen Fortschritt bedeutet. Als er dann resigniert hat und auf die
alten Stoffe zurückgreift, schickt er an Rühle das Manuskript des zerbrochenen Kruges
mit dem Bemerken, daß der Glaube an seine Fähigkeit nur noch der Schatten seines
ehemaligen ist, daß er nur das, was er sich vorstellt, schön findet, nicht seine
Leistungen, daß er überhaupt nur noch dichtet, weil er etwas anderes nicht versteht.
Seine hochfliegenden Pläne hat er aufgegeben, er dichtet, um sein Brot zu verdienen. Aber
nicht lange, der alte Drang erwacht wieder, von neuem schwebt ihm sein Jugendideal vor,
das er nunmehr unter ganz anderen Voraussetzungen zu erringen
beabsichtigt. <234:>
Wenn man sich meine Auffassung von der Bedeutung der
Guiskard-Periode im Leben Kleists zu eigen macht, so ergibt sich daraus von selbst das
Haltlose und Ungereimte der Ansicht, die gerade in den Kämpfen um den Guiskard die
Hauptstütze für die Diagnose von Kleists geistiger Erkrankung sieht. Gegenüber der
Hypothese von Lombroso, welcher das Genie bald eine Degenerationspsychose aus der Gruppe
des moralischen Irreseins nannte, bald geniale und epileptische Anlage verknüpfte und
gegenüber der Meinung von Moebius, nach welchem der Keim Krankheit und Talent zugleich
enthält, habe ich auf das Unzulängliche ihrer Methode hingewiesen und habe ich
gefordert, daß die rein anatomische Untersuchung (d. h. in diesem Falle die Prüfung
des Menschen an der Hand des biographischen Materials) sich unterordne der funktionellen
Diagnose. Die geistige Gesundheit und die geistige Erkrankung dokumentiert sich viel mehr
in den Werken des Genies als in seiner Biographie, und die Behauptung einer
krankhaft-degenerativen Veranlagung ist ganz haltlos gegenüber einem Dichter, dessen
dichterische Entwicklung progressiv das Resultat eines ansteigenden geistigen Wachsens und
zunehmender Charakterfestigung ist. Wie steht es in diesem Sinne mit Kleist, welche
Entwicklung zeigt sein dichterisches Schaffen, und bedeutet die Guiskard-Periode eine
Störung oder einen Fortschritt in der geistigen Entwicklung des Dichters?
Dem Psychologen bietet die größten Rätsel der Knabe
Kleist und ebenso der Offizier und Student bis zu der Erkenntnis seiner dichterischen
Mission und zur Beendigung seines Erstlingsdramas. Uns imponiert die gewissenhafte
Ehrlichkeit, der frühreife Ernst in seinen Briefen, der wohlerzogene,
moralisierend-philiströse, altkluge Ton, den er anschlägt, der nichts verrät von einer
reichen Dichterphantasie. Wie ein junger Römer philosophiert Kleist über den Lohn der
Tugend, über das wahre Glück, das er im Gefühl erhaltener und geretteter Würde sucht.
Nichts von Phantasie und dichterischem Schwung, in unerbittlicher Strenge und scharfer
Nüchternheit blickt er in <235:> die Welt. Und dann plötzlich und ganz
unvermittelt die Offenbarung, ja das Wunder: die Schroffensteiner, ein Wunder, weil sonst
nie ein Dramatiker in seinem Erstlingswerk so seine dichterische Wesenheit offenbart, so
die geniale Veranlagung zu Tage treten läßt. Die eigenartige Entwicklung läßt sich
nicht anders erklären, als aus dem Milieu, in dem der Knabe aufwuchs, aus einer Erziehung,
welche für die zarten vielseitigen Anlagen einer Künstlernatur die denkbar ungeeignetste
war.
Die erste Schaffensperiode zeigt Kleist als originalen,
vielseitigen, genialen Dichter, der sich fernhält von allen fremden Einflüssen. Sehr
bald genügen ihm seine ersten Versuche nicht, er spricht selbst verächtlich von seinem
Jugenddrama, und in einer zweiten Periode der Entwicklung schwebt ihm das Drama der
Zukunft vor, das musikalische Drama, das später unabhängig von ihm ein Nietzsche und
Hebbel geahnt haben. Nach vergeblichem Ringen resigniert Kleist, seine Versuche, die einen
Wieland begeisterten, genügen ihm nicht, er erkennt seine Mittel als unzulänglich und in
einer überreichen dritten Schaffensperiode geben seine Studien, seine Kämpfe, seine
Liebe und das Vaterland den Stoff zu einer Fülle neuer Werke.
Wenn Kleist am Schlusse seines Lebens zu seinen
Jugendidealen zurückgreift, wenn er jetzt zielbewußt und ganz systematisch an seine
Aufgabe heranzutreten beabsichtigt, so zeugt das für eine fortschreitende sittliche und
geistige Entwicklung, welche auch nur die Vermutung einer krankhaften Geistesveranlagung
zu nichte macht. Der unerwartete Tod machte seinen Plänen ein Ende, er raubte uns Kleist
vor seiner vierten Schaffensperiode.
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