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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 221-230

Kleists Kämpfe um den „Robert Guiskard“. Kleists Kunstideal


II. Teil

Heinrich von Kleists Werke.

Aber es gibt Geister von solcher Bedeutung, daß nur die Unverschämtheit oder die Dummheit, sie zu loben wagt, Namen, die jedes gehorsamste Adjektiv, das sich ihnen mit einem Räucherfaß und einem Fliegenwedel zur Seite stellen wollte, verzehren würden, wie das Feuer den Kranz, wenn jemand die Abgeschmacktheit beginge, ihm einen aufzusetzen. Zu diesen rechne ich Heinrich von Kleist. Ich werde nie zum Frühling sagen: verzeihen Sie, Sie haben dort ein welkes Blatt, oder zum Herbst: nehmen Sie es ja nicht übel, dieser Apfel ist nur zur Hälfte roth.
Aus Hebbels Tagebüchern. <221: Leerseite> <222:>

I. Kapitel.

Kleists Kämpfe um den „Robert Guiskard“.
Kleists Kunstideal.

Während Kleist uns in der ersten Lebensperiode als Offizier und Student imponiert durch sein klares und konsequentes Denken, durch seinen ausgesprochenen Drang nach Wahrheit und Erkenntnis, durch einen Geist, der frei von jedem phantastischem Überschwang hauptsächlich Gefallen findet am Studium der strengen Logik und Mathematik, zeigt er, etwa seit Ende 1800, eine ausgesprochene Störung in seiner gemütlichen, nervösen Verfassung, sein seelisches Gleichgewicht schwankt, seine Stimmung ist im fortwährenden Wechsel, wir erleben heftigste Selbstvorwürfe, tiefe Depression, Todesahnungen und Beängstigungen. In dieser Sturm- und Drangperiode seines Schaffens spielen seine Kämpfe und sein Ringen mit dem Guiskard-Stoffe eine ebenso entscheidende als verhängnisvolle Rolle.
Um diese Zeit schrieb Kleist seinen für uns verlorenen Aufsatz: Geschichte meiner Seele. Der Dichter, der sich scharf zu beobachten pflegte, der ständig über sich nachdachte, hat auch in dieser peinlichsten Periode seines Lebens über sein seelisches Befinden und seine seelischen Bedrängnisse Zeugnis abgelegt, besonders in den Briefen an seine Braut; darüber hinaus muß aber die Geschichte seiner Seele zweifellos Bekenntnisse enthalten, welche auf sein dichterisches Schaffen ein Licht werfen, welche uns einführen in die Werkstatt seiner dramatischen Produktion, denn nicht anders ist es zu verstehen, wenn eine Freundin, fünf Jahre nach des Dichters Tode, über <224:> die Arbeit schreibt, daß ohne diese, wenigstens für diejenigen, die Kleist ganz kennen und würdigen wollen, seine ganzen Schriften nur ein Fragment bleiben. Welche Absichten verfolgte Kleist mit seinem Guiskard-Drama, wie kam es, daß der Dichter die schwierigsten Stoffe, die sich ihm aufdrängten gleichsam spielend – und wenigstens gelegentlich in überraschend kurzer Zeit – überwand, an dem Guiskard-Stoffe scheiterte? Alle Versuche, diese Fragen auf literarästhetischem Wege zu beantworten, sind als gescheitert anzusehen, und die altübliche Auffassung, daß Kleist den antiken mit dem modernen Geist neu zu beseelen versuchte, ist endlich definitiv widerlegt\1\. Versuchen wir auf einem anderen Wege diese für das Verständnis Kleists wichtigste Frage zu lösen; denn das Rätsel des Guiskard-Dramas ist auch das Geheimnis von Kleists Künstlertum und wohl auch das Geheimnis seiner tief verschlossenen, äußerlich so exzentrischen Natur.
Ich habe an anderer Stelle\2\ den Nachweis erbracht, daß wir unter den zweifellos stärksten dramatischen Kräften – Schiller, Alfieri, Grillparzer, Hebbel, Kleist, Ludwig – Äußerungen nachweisen können, die auf die Beziehungen zwischen dichterischer Produktion und musikalischem- oder Gehörseindruck hinweisen. Solche Dichter nennen wir dionysische, im Gegensatz zu den apollinischen. Solche Dichter werden durch musikalische Gehörseindrücke in eine nicht näher zu definierende Gemütsverfassung versetzt und erhalten, aus der sich erst ihre dichterische Einbildungs- und Gestaltungskraft und die Gebilde ihrer Phantasie entwickeln. Aber darüber hinaus habe ich den Beweis erbringen können, daß nicht bloß die Poesie des lyrischen und epischen Dichters, dessen musikalische Empfindung Klang und Rhythmus des Verses bedingen, sondern auch die Konzeption und Gestaltung dramatischer Vorgänge geweckt, hervorgerufen und unterhalten wird durch <225:> musikalische Empfindungen und Gefühlsaffekte. Wir müssen uns vorstellen, daß die Musik eine viel weitergehende Wirkung auf den mit starker Phantasie begabten dramatischen Dichter ausübt, als auf den phantasiearmen, musikalischen oder nichtmusikalischen Durchschnittsmenschen. Bei dem nüchternen Geistesmenschen erregt die Musik vor allem die Gefühlssphäre, und je höher sein musikalisches Verständnis reicht, desto stärker wird sich ihm der innere Gehalt des Musikstückes und seine Tendenz aufdrängen. In dem musikalischen und dabei phantasievollen Zuhörer werden darüber hinaus durch die Musik noch weit entfernte Seelenzustände hervorgerufen, Phantasiebilder, die wohl mit dem Inhalt der Musik zusammenhängen, an die der Komponist aber selbst nicht gedacht hat. Natürlich werden die Phantasiebilder nur dann sich weiter entwickeln, feste Gestalt annehmen und zur dramatischen Konzeption führen können, wenn sie an Erinnerungsbilder anknüpfen resp. solche wachrufen, die im Unterbewußtsein schlummern und auf Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen, Ereignisse usw. usw. zurückzuführen sind. Ebenso wie der Dichter den unwillkürlichen passiven Ablauf der Vorstellungen (Phantasie) als unbewußten Vorgang empfindet und schildert, so können auch die Erinnerungsbilder, welche der musikalische Eindruck wachruft, seinem Gedächtnis und Bewußtsein so völlig entschwunden sein, daß sie gleichsam aus dem Nichts entstanden scheinen, und daß der Dichter zu der Ansicht kommt, die Musik sei die produktivste Kunst oder, wie Kleist sich ausdrückt, sie sei die Wurzel aller anderen Künste.
Unter allen Dramatikern, deren Stellung zur Musik wir ergründen können, zeigt Kleist den ausgesprochensten Sinn für Musik und das stärkste musikalische Empfinden. Ich habe schon oben erwähnt (S. 10), daß Kleist verschiedene Instrumente selbständig beherrschte. Wir ersehen aus Andeutungen seiner Briefe, daß er seine Verwandten in gleichem Sinne anregt, daß er ihnen Musikstücke besorgt, daß er für sie transponiert. Im Verkehr mit Mädchen und Frauen fesselt ihn <226:> besonders ihr Musikverständnis und ihr musikalischer Sinn. Das gilt für Juliane Kunze, deren vorzüglicher Gesang ihn fesselte, das scheint das feste Band zu erklären zwischen Kleist und Ulrike, von der wir wissen, daß sie sich noch an ihrem Lebensende eifrig an dem Musikleben ihrer Vaterstadt beteiligte, das gilt für die ehemalige Sängerin, seine Freundin Hendel-Schütz, schließlich auch für Kleists Beziehung zur Vogel, mit der ihn die „gleiche Stimmung in musikalischen Dingen“ eng und bis in den Tod zusammenhält. In „musikalische Einsicht“ betitelten Epigrammen besingt Kleist die verlockende Gewalt, das erhebende und sinnlich berauschende der Musik, und wir wissen von ihm selbst, daß die produktive Stimmung bei ihm einsetzte mit üppigen Gehörshalluzinationen, die ein ganzes Konzert mit allen Instrumenten darstellten, von der zärtlichen Flöte bis zum rauschenden Kontraviolon. Darüber hinaus haben wir von Kleist musiktheoretische Bekenntnisse, welche zweifellos beweisen, daß er sein Leben lang diesen Fragen seine Aufmerksamkeit zugewandt hat, und daß er alles Allgemeine, was er über die Dichtkunst gedacht hat, auf Töne bezog im Gegensatz zu Goethe, der alle seine Gedanken über die Dichtkunst zu Farbeneindrücken in Beziehung setzte.
In Kleist vereinigt sich also mit der gewaltigen dichterischen und dramatischen Kraft ein selten starkes musikalisches Temperament, und es konnte nicht fehlen, daß diese Kombination für die sich kaum eine Analogie in der Weltliteratur findet, die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zog. So haben Helene Zimpel\1\ und S. Lublinski\2\ wichtige Beiträge zur Kleistpsychologie geliefert, denen mir nur wenig beizufügen übrig bleibt.
Kleist, der in seinem Guiskard auf die Antike zurückging, empfand, wie Lublinski sich ausdrückt, nicht nur das Appollinische, sondern das Dionysische der Antike, d. h. nicht nur <227:> ihre Architektur und Plastik, sondern auch ihr wirres Chaos und ihre dumpfe grollende Musik. Beides zu einem gemeinsamen Kunstwerke zu vereinigen, und wie die hellenische Tragödie im Sinne Nietzsches aus dem dionysischem Chorliede geboren wurde, so sein modernes Drama aus dem Geist der Musik erstehen zu lassen – das war die große Aufgabe, die sich Kleist gestellt hatte, und die er aufgeben mußte, als er fühlte, daß sie seine Kräfte überstieg. Aber obgleich ihm der volle Wurf nicht gelang, so ist doch, wie Lublinski treffend behauptet, Kleist nicht bloß ein Vorläufer, sondern auch ein Überwinder Richard Wagners, indem er mit seinem Guiskard-Fragment durch die Tat den Beweis erbracht hat, daß ein musikalisches Drama auch im schlichten Dichterwort sehr wohl möglich ist. Die poetisch-musikalischen Intentionen des Guiskard, mag auch der Dichter bei seiner nachträglichen Veröffentlichung manches von seiner ursprünglichen Absicht aufgegeben haben, treten deutlich zutage, und das Fragment läßt das Drama ahnen, das sich auf einer musikalischen Grundempfindung aufbauen sollte. Das Volk im Guiskard, so führt Servaes aus, stellt ein ganzes Orchester dar mit einzelnen individualisierten Stimmen: nämlich die Krieger und der Greis, welche das Volk beschwichtigen. Dann stellen sich in Robert, Abälard, Helena und im Guiskard selbst dem Orchester die menschlichen Stimmen gegenüber, und das alles in konstrastierendem Wechsel und wohlschattiertem Gegensatz zielt durchaus auf eine große Harmonie hin, welche die geforderten Teile zu verbinden hat. Auch andere Dramen Kleists verraten einen starken muskalischen Gehalt, und das musikalische Temperament, welches in der Penthesilea und in manchen Szenen der Hermannsschlacht zum Ausdruck kommt, erscheint mir viel natürlicher und ungezwungener als im Guiskard, wo der Dichter in bestimmter Tendenz seinem musikalischen Empfinden Gewalt anzutun scheint.
Was wir aus den Resten von Kleists Drama herauslesen, das finden wir bestätigt in seiner Korrespondenz. Kleist, der seiner Schwester mit Bezug auf den Guiskard mitgeteilt hatte, <228:> daß er sich mit einer „Entdeckung im Gebiete der Kunst“ beschäftige, schreibt ihr aus Genf (5. Oktober 1803), daß er seine Arbeit aufgibt, daß er vor Einem zurücktritt, der noch nicht da ist und sich, ein Jahrtausend im voraus, vor seinem Geiste beugt. Er grollt dem Schicksal, das sich herabläßt „ein so hilfloses Ding, wie der Mensch ist, an der Nase herumzuführen“. Und nun sagt er wörtlich: „Die Hölle gab mir meine halben Talente“. Kleists Sätze in den Briefen sind stets wörtlich zu nehmen, niemals, wie es oft geschehen ist, im übertragenen Sinn\1\ oder in einer Bedeutung, die wir ihnen im modernen Sprachgebrauch unterlegen\2\. Besonders, wenn wir den Zusatz berücksichtigen: „der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes (Talent) oder gar keins,“ so liegt es klar auf der Hand, daß Kleist unter seinen halben Talenten sein poetisches und musikalisches verstanden wissen will, und daß er beide gemeinsam zu seiner großen „menschlichen Erfindung“ braucht, daß aber beide bei ihm nicht stark genug entwickelt sind, um ihm den heißersehnten Platz in den Sternen zu sichern.
Ein analoges Beispiel zu Kleist und seinem Guiskard-Fragment bietet der geistesverwandte Hebbel mit seinem unvollendeten Moloch. Auch hier ein langjähriges Ringen um eine neue Kunstform, auch hier im Fragment der musikalische Untergrund wahrnehmbar, auch hier endlich die Resignation. Die Analogie ist für uns um so bemerkenswerter, weil Hebbel <229:> sich deutlicher als Kleist über seine Absichten äußerte, und weil wir daraus einen Rückschluß ziehen können auf das, was Kleist vorschwebte. Am 10. Mai 1853 schreibt Hebbel an Robert Schumann:
„Vieles hätte ich Ihnen über Poesie und Musik mitzuteilen, gehörte nur nicht leider eine Reihe von Gesprächen oder eine ganze Abhandlung dazu. Ohne Richard Wagner im ganzen oder einzelnen irgend akzeptiren zu können, schwebt doch auch mir, und zwar von meinem ersten Auftreten an, die Möglichkeit einer Verschmelzung von Oper und Drama in ganz speziellen Fällen vor, und meinen Moloch, an dem ich seit zehn Jahren arbeite, habe ich mir immer in bezug auf die Musik gedacht. Aber freilich läßt sich das Wie nicht in Kurzem auseinandersetzen.“
Wir wissen, daß Hebbels wie Kleists Bemühungen vergebliche waren, und daß der Moloch wie der Guiskard Fragmente geblieben sind. Woran sind Kleists Bemühungen gescheitert, und hat er für immer die Pläne und Tendenzen seiner Jugend aufgegeben? Nach Lublinski versagte beim Guiskard nicht die dichterische Kunst Kleists, sondern der Fehler steckte von Anfang her im Geistigen, in der starr einseitigen Auffassung seines Schicksalsgedankens. Ich kann diese Auslegung Lublinskis nicht anerkennen, und ich finde in des Dichters Korrespondenz eine andere Erklärung für seinen Mißerfolg. Wenige Monate vor seinem Tode, im August 1811, schreibt Kleist zwei offenbar an dieselbe Adresse gerichtete kurze Briefe, von denen der erste\1\ folgendermaßen anhebt:
Sobald ich mit dieser Angelegenheit fertig bin, will ich einmal wieder etwas recht Phantastisches vornehmen. Es weht mich zuweilen bei einer Lectüre oder im Theater wie ein Luftzug aus meiner allerfrühesten Jugend an. Das Leben, das vor mir ganz öde liegt, <230:> gewinnt mit einem Male eine wunderbare herrliche Aussicht, und es regen sich Kräfte in mir, die ich ganz erstorben glaubte.“

\1\ Wuckadinowic: Neue Kleist-Studien.
\2\ Aus der Werkstatt des dramatischen Genies. München 1906. Die folgende Darstellung ist zum großen Teil dieser Schrift entnommen.
\1\ Kleist der Dionysische. Nord und Süd, Heft 323.
\2\ Eine Kleist-Biographie. Nation XXII, 31.
\1\ Solche Erklärungsversuche, wie die, gewisse Äußerungen während der Würzburger Reise im übertragenen Sinne zu deuten, sind bei Kleist durchaus unzulässig.
\2\ Ein treffender Beweis hierfür ist die ominöse Briefstelle in dem Schreiben an Ulrike vom 1. Mai 1802: „ich besteige das Schreckhorn“. Wieviel ist daran herumgedeutelt worden! Zolling und andere haben sich bemüht, den Nachweis zu erbringen, daß man unmöglich in der angegebenen Frist den Berg überwinden könne. Abgesehen davon, daß es zu jener Zeit noch nicht eine alpine Hochtouristik gab und kein Mensch an die Besteigung des Berges dachte, so hat man in jener Zeit auch noch nicht besteigen wie heut im gleichen Sinne gebraucht wie ersteigen. Besteigen bedeutet wörtlich ein Stück hinansteigen; ersteigen die Spitze überwinden.
\1\ Ich glaube, daß die Briefe in der Briefsammlung falsch gestellt sind, und daß dem Sinne nach der zweite Brief vor den ersten gehört.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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