Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen
Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 60-65
Das Haus Cohen und andere Gesellschaftskreise während Kleists erster Berliner
Periode (1800-05)
Varnhagen schreibt in seinen Denkwürdigkeiten über ihn
(IV. Bd. S. 282):
Graf
Alexander zur Lippe, edel, zartsinnig, gebildeten und strebenden Geistes, aber auch
wirrköpfig, einbildnerisch und abschweifend, lebte in empfindsamster Seelenschwingung,
und verbreitete Rührung und Innigkeit um sich her, die aber bei leisen Anlässen
wunderlich aus der unbefriedrigten Spannung auch in Schärfe und Säure umschlugen, womit
er sich und andere dann nicht wenig quälte, bis manche wieder, was nicht schwer wurde,
ihn auf Scherz und Laune zurückbrachten. In erhabenen Freundschaften lebte er mit edlen
Frauen; einen anwesenden Freund, Herrn v. Brockes, führte er bei jeder Gelegenheit
zärtlichst im Mund; auch mit mir tauschte er jetzt Händedruck und Vertrauensworte, und
durchflocht meine Neigungen und seine; die Leidenschaft, zu welcher eine jugendliche
Schöne ihn entflammt hatte, verbarg er keineswegs, wenn auch die letztere selbst als ein
zartes Geheimniß verschwiegen blieb. <61:>
Weiter
heißt es (S. 286): die Sprache des paradoxen Ernstes, die Einfälle der
Laune und des Witzes fielen so reichlich ab, daß wir anfingen, sie in ein kleines, zu
diesem Zwecke erhaltenes, blaues Buch zu sammeln, wo besonders die wunderlichen und oft
ungemein treffenden Schlagworte Lippes sich anhäuften.
An
einer anderen Stelle (S. 282) führt Varnhagen aus, wie empfindlich, übelnehmerisch
und schwer zu behandeln der Freund war.
Nach
den Angaben seiner Angehörigen war Lippe etwa ein Jahr älter als Kleist, geboren den
30. November 1776 in Muskau in der Oberlausitz, wo sich seine Mutter, eine geborene
Gräfin v. Calenberg, aufhielt, während sein Vater, Karl Christian, als Reichshofrat
in Wien durch sein Amt festgehalten war. Die Erziehung lag in den Händen der Mutter; er
studierte in Göttingen und Jena die Rechte, wandte sich aber bald den schönen
Wissenschaften zu und beschäftigte sich fortgesetzt mit philosophischen Problemen, über
die er sich oft in lebhafter Diskussion mit Freunden (auch Novalis gehörte dazu)
größere Klarheit zu verschaffen strebte. Er wird geschildert als ein selten begabter,
feinsinniger, geistreicher aber doch nicht glücklicher Mann. Sein Unglück
war und blieb, daß er sich nicht für einen festen Beruf und ein bestimmtes Arbeitsgebiet
entscheiden konnte. Seine Familie drängte und kaufte ihm schließlich eine
Kompagnie, aber nach kurzer Zeit quittierte er den Dienst und lebte weiter ohne bestimmte
Beschäftigung, dem grübelnden Nachforschen seelischer Zustände ganz ausschließlich
hingegeben. Lippe lebte in Berlin etwa bis Anfang 1811. An seinen Berliner Verkehr
erinnert ein Billet in Varnhagens Nachlaß vom 23. Februar 1804:
Unterzeichneter
gibt sich die Ehre, Herrn Varnhagen und Neumann hierdurch anzuzeigen, daß die übrigen
Herren Dichter gesonnen seyen, zwischen 7-8 zu ihm zu kommen und er sie daher zu derselben
Zeit mit Vergnügen bei sich erwarte.
A. G. z. Lippe. <62:>
Seit
1811 lebte Lippe in Dresden, ohne einen bestimmten Beruf, grübelte unzufrieden,
übelgelaunt, hypochondrisch, Seine Vermögensverhältnisse müssen schlechte geworden
sein, denn nach Rahels Tode sendete er Varnhagen auf sein Ansuchen ihre Briefe zurück mit
der Bitte um ein Darlehen. In seinen letzten Lebensjahren besuchte er eine
Privatheilanstalt in Freiburg und lebte schließlich ganz vereinsamt in Merseburg, wo ihn
1839 ein Schlaganfall plötzlich dahinraffte.
Lippe,
Brockes und Kleist waren das Freundestrio, das in den schöngeistigen Kreisen Berlins
gemeinsam verkehrte. Wir können uns wohl vorstellen, daß der geistreiche Lippe, welcher
nur den schönen Wissenschaften und philosophischen Studien lebte, Kleist stark anzog.
Ihnen beiden war ja gemeinsam die Abneigung gegen einen festen Beruf und der Widerstand
gegen den Willen der Familie. Darin lag für Kleist zweifellos eine große Gefahr im
Umgang mit Lippe, und hier mag zum Glück für Kleist Brockes ausgleichend gewirkt haben,
von dem ja Kleist selbst berichtet (an Wilhelmine 31. Jan. 1801), daß er von der
Vielwisserei verächtlich dachte, und daß sein oberster Grundsatz war: Handeln ist besser
als Wissen. Wir dürfen aus den schwärmerischen Äußerungen Kleists und aus seiner
Charakterschilderung den Schluß ziehen, daß Brockes Bemühungen darauf gerichtet
waren, Kleist dem ungünstigen Einflusse Lippes mit allen seinen bestechenden
Eigenschaften zu entziehen.
Außer
dem Nordsternbunde, der sein Hauptquartier im Cohenschen Hause hatte, bestand in Berlin
noch ein zweiter Gesellschaftskreis, der von Brinckmann begründet wurde, und der
ebenfalls in Varnhagens Denkwürdigkeiten kurz erwähnt ist.
Gentz
berichtet in einem Briefe an Garve von einer besonderen Gesellschaft, die der
Damen-Tee hieß, und die sich alle Dienstage versammelte, einmal bei der
Dlle. Hainchelin, einmal bei Mme. Herz, einmal bei der Kriegsrätin Eichmann und
einmal bei Dlle. Dietrich; zu diesem Tee waren Brinckmann, Spalding, Humboldt, Graf
Dohna, Gentz und Ancillon <63:> ein für allemal geladen; außerdem bat jede
Dame, die gerade Wirtin war, noch wen sie wollte. Gentz nennt dieses Institut ein
schätzbares Vermächtnis Brinckmanns, das er seinen Freunden hinterlassen. Varnhagen
findet es auffallend, daß von diesen Damen, mit Ausnahme der Henriette Herz, nur diese
schwache Spur ihres Daseins und Wirkens uns erhalten ist.
In
einem Spottgedicht Ludwig Roberts aus dem Jahre 1801 es findet sich nicht
unter seinen Gedichten, ist aber auch zitiert bei Varnhagen , das an Brinckmann
gerichtet ist, macht er sich lustig über diesen Damen-Tee; an einer Stelle
des Gedichts führt er die wichtigsten Teilnehmer der Gesellschaft an, darunter zwar nicht
Kleist selbst, wohl aber seine intimsten Freunde. Die Stelle lautet:
Keine von allen, ich schwörs, lad ich zum köstlichen Tee
Lauter Männer, die besten, die liebenswerthen der Hauptstadt
Lippe, Loewenhjelm, Gentz, Brockes der kühne Gesell,
Humboldt, mein Freund wie der Deine und alle Franzosen und Spanier
Sollen sich drängen um Dich, Brinckmann geschäftig voran.
Eine der häufigsten und eigenartigsten Erscheinungen in allen gesellschaftlichen Kreisen
Berlins war damals der schöngeistige, älteste Bruder der Maria v. Kleist, der als
Major verabschiedete, zu jener Zeit (seit 1798) im Departement der auswärtigen
Angelegenheiten beschäftigte Peter v. Gualtieri. Wir wissen durch Varnhagen und mehr
noch aus zahlreichen Notizen bei Ludwig Robert, daß er in den geschilderten Kreisen eine
große Rolle spielte. Die Familie Gualtieri, auch Gualtiero, stammte aus dem Herzogtum
Orvieto und war dort der Religion wegen ausgewandert. Der alte Adel der Familie wurde
anerkannt zugunsten des preußischen Geh. Rates Albert Samuel Gualtieri, des Vaters
der Maria v. Kleist, und Peters. Über ihn erzählt kurz nach seinem Tode
Joh. v. Müller (Genthod, 12. Februar 1778): Gualtieri, ein Freund
von Bonnet und Trouchin, ist an einer Lungenkrankheit gestorben, ein Mann von ungemein
vielem Geist. Aber er hat seinen beiden Freunden vom Könige ein Gemälde gemacht, welches
1. einen Geistlichen, <64:> 2. einen Mann, der Nervenkrankheiten
hatte, verrät. Und vom 14. Februar: Gualtieri schrieb einst dem Könige,
,die einzige Gnade, welche man von ihm erwarten könne, und die einzige, welche er
begehre, sei, seine Staaten zu verlassen. Der König antwortete: Ihr habt mir
einen Brief geschrieben, der nicht genugsam überlegt war; ich hoffe, wenn Ihr ihn
überlegt, so werde es Euch leicht sein.Friedrich.
Die
Beziehung Kleists zu Peter v. Gualtieri scheint nicht eine besonders intime gewesen
zu sein. Gualtieri scheint Kleist persönlich mehr geschätzt zu haben, als dieser ihn.
Das beweist seine dringende Aufforderung an Kleist, ihn nach Spanien zu begleiten, und die
günstigen Vorschläge, die er ihm machte; auf der anderen Seite Kleists zögernde,
abwartende, unentschlossene Haltung: er (Gualtieri) will immer noch, daß ich ihn
nach Spanien begleite, schreibt Kleist am 24. August 1804 an seine Schwester,
lerne doch diesen Menschen selbst kennen, und sage mir, was ich thun
soll. Schon einen Monat früher, am 27. Juli, hatte Kleist voller Verlegenheit
seiner Schwester geschrieben: es sollte mit lieb sein, wenn sich Gelegenheit
fände, Euch diesen Menschen vorzustellen, an welchem mir selber Alles , bis
auf seine Liebe zu mir, so unbegreiflich ist. Es geht aus alledem hervor,
daß Kleist kein rechtes Vertrauen in Gualtieris Person setzte, und daß er sich kein
Urteil über ihn bilden konnte. Auffallend ist auch die kühle und kurze Anzeige seines
Todes an Pfuel.
Das
Urteil, welches wir selbst uns über Gualtieri bilden, stützt sich auf die Charakteristik
Varnhagens in seiner Galerie von Bildnissen etc. Außerdem besitzen wir
noch einige bemerkenswerte Äußerungen über ihn, die bisher übersehen worden sind in
Varnhagens Denkwürdigkeiten\1\. Der Aufsatz Rahel
Levin und ihre Gesellschaft. <65:> Gegen Ende des Jahres 1801 schildert
einen Teeabend bei der Rahel, an welchem u. a. teilnahmen Brinckmann, Fr. Schlegel, Gualtieri, Gentz, Prinz Louis Ferdinand,
Fürst Radziwill. In diesem Aufsatz ist neben manchem Bekannten geschickt Material
verwendet aus dem Nachlasse Roberts, welches sich heut in der Kgl. Bibliothek
befindet. Bemerkenswert ist für uns eine Äußerung Brinckmanns über Gualtieri:
Vor
Gualtieri nehmen Sie sich in Acht, er ist streitsüchtig und rechthaberisch, und in seinen
Launen gar nicht zu berechnen. Die kleine Levin macht ein großes Wesen von seinem
originellen Geiste, von seinem eigenthümlichen Verstande, ich muß aber bekennen, daß
ich sie darin nicht begreife, mir gelingt es nicht, mehr in ihm zu sehen, als einen
ungeschulten Sophisten, der sich mit den Leuten alles erlaubt, was ihm
einfällt.
\1\ Varnhagen:
Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Neue Folge IV. Bd. Leipzig 1859.
Emendation
Fr. Schlegel,] Fr. Schlegel D
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