Sigismund Rahmer,
Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 65-70
Das Haus Cohen und andere Gesellschaftskreise während
Kleists erster Berliner Periode (1800-05)
Die folgenden beiden Akrostichen auf Gualtieri zitiere ich
nach dem in der Kgl. Bibliothek vorhandenen Original:
Glatt; doch unnahbar nie und säß er an fürstlicher
Tafel;
Unrecht scheuet der Mann, der Unrecht wüßt
zu vertheidgen,
Aber bist Du gewiß, daß er liebend sich selbst
nicht betrüget,
Listig weicht er sich aus, doch stark stets
faßt er sich wieder,
Trau ihm in seinem Gemach, hier darfst du,
darf er sich trauen,
In der Gesellschaft ist Krieg und dort er
Soldat und Gesandte.
Eingen kann sich mit ihm, der einig
mit ihm schon von je ist,
Redend dann herrschet er gern; doch läßt
er kindlich sich leiten.
Ja so lebt er ein Räthsel, gehaßt und geliebt
und gefürchtet.
Glaube,
Dir glaubt er nichts, doch glaubt er alles,
Undankbar stets denkt er: er danke
nur alles,
Alles scheint er zu lieben und liebt
nur den Schein und
Laut im Streit und nicht lauter so
schreit er und hört nur
Tiefes Gefühl bleibt tief ihm
verborgen, er fühlt nur
In Verlegenheit sah ich ihn nie,
doch verlegen oft fühlt er
Ehre ist ihm das Erste, drum ehrt er
auch ehrlich
Reitzbar ist er und reitzend, aufreitzt
er öfters
Jahre lang könnt ich ihn tadeln,
es hilft Nichts, er tadelt
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|sich
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|sel-
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|ber.
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Fassen wir die Äußerungen
Kleists und seiner Zeitgenossen über Gualtieri zusammen, so
bekommen wir den Eindruck einer problematischen Persönlichkeit,
der gegenüber ein gewisses Mißtrauen berechtigt war. Wir können
es verstehen, und es spricht für seine Menschenkenntnis, wenn
Kleist gegen Gualtieri eine große Zurückhaltung zeigt und
sich nur schwer oder gar nicht entschließen kann, auf seine
Vorschläge einzugehen, die ihm sonst in seiner schwierigen
Lage sehr gute Chancen boten.
Wenn
wir die Spuren der Kreise verfolgen, in denen sich Kleist
bei seinem ersten längeren Aufenthalte in Berlin bewegte,
so kommt es uns nicht bloß darauf an, seine persönlichen Beziehungen
kennen zu lernen, sondern weit mehr interessiert uns die Frage,
welchen Einfluß diese Kreise auf ihn ausgeübt, ob und inwieweit
sie seine Bildung und geistige Entwicklung gefördert haben.
Kleists poetische Ziele und seine dichterischen Ideale waren
andere, als die der jungen Romantiker, die jenen Kreisen angehörten.
Wir wissen ja auch, daß er sich ihnen gar nicht als Dichter
zu erkennen gab. Spöttisch mag er auf ihre poetischen Wettkämpfe
herabgeblickt haben. Aber nach gewisser Richtung lassen sich
doch bestimmende Einflüsse auf seinen Bildungsgang nachweisen.
Aus
den Briefen der jungen Dichter, welche den geschilderten Kreisen
angehörten, lesen wir heraus, daß unter ihnen vornehmlich
die spanische Sprache und die spanische Literatur gepflegt
wurde. Die nur sehr unvollständig veröffentlichte Korrespondenz
zwischen Varnhagen, Chamisso, Neumann, Bernhardi, später auch
Fouqué, gibt uns ein deutliches Spiegelbild der mit großem
Eifer betriebenen Studien der jungen Dichter, deren Abgott
Cervantes hieß. Hier muß Kleist die Anregung empfangen haben,
die seinem Stil und seiner Gestaltungskraft das ausgesprochene
Gepräge gab. Kleist mag seinen Shakespeare, seinen Goethe
und Schiller gekannt haben, die Novellen des Cervantes müssen
außerdem sein wie seiner <67:> Jugendfreunde eifriges
Studium gewesen sein. Haben diese den Spaniern hauptsächlich
die äußere Form abgeguckt, so verdankt Kleist Cervantes die
unübertroffene Gegenständlichkeit der Darstellung, den vollen
klaren Fluß seiner getragenen Perioden. Die Tatsache, daß
sich in dem Nachlaß Dahlmanns, wie ich schon früher hervorgehoben
habe, eine spanische Übersetzung von Kleists Hand vorfand,
sowie der Umstand, daß der Posten in Spanien überhaupt für
ihn in Frage kam, gibt auch den äußeren Beweis dafür, daß
Kleist spanische Studien zu jeder Zeit eifrig gepflegt hat.
Die Tatsache, daß Kleist der spanischen Sprache mächtig war
und die spanische Literatur aufs eifrigste verfolgte, wird
bestätigt durch die Untersuchungen Eichhorns\1\.
Schöngeistige
Anregungen auch anderer Art muß Kleist in den Gesellschaftskreisen
erhalten haben, die ich oben gekennzeichnet habe. Es waren
die Kreise, in denen Goethe sehr früh verstanden und wie ein
Gott verehrt wurde. Aus der oben angeführten Äußerung Varnhagens
geht hervor, daß ihm der Wilhelm Meister von der Cohen in
die Hand gegeben wurde. Unter den der Romantik huldigenden
Freunden Kleists hatte Wilhelm Meister gewissermaßen kanonischen
Wert, das Werk wurde die Vorlage für den gemeinsamen Roman
Karls Hindernisse. Vor allem aber war die Rahel,
die im Cohenschen Hause ein und ausging hier hatte
sie Varnhagen kennen gelernt die Verkünderin und
Prophetin Goethes. Sie hat ihre Zeitgenossen gelehrt, geistig
von und durch Goethe zu leben, sie hat ihre Lebensaufgabe
darin gesehen, das Goetheverständnis zu fördern; in dem Grade,
in dem ein Mensch Goethe liebte, war er Rahels Freund. Es
läßt sich nachweisen, daß Kleists erste Berührung mit Goethe,
das wachsende Verständnis für ihn und seine Verehrung für
Goethe, die trotz aller Anfeindungen bis an sein Ende andauerte
(vgl. <68:> den Brief aus dem August 1811),
einsetzt mit dem Beginn seines Berliner Aufenthaltes. Die
Frage, welcher äußeren Anregung Kleist die erste Bekanntschaft
mit Goethe verdankt, hat neuerdings Paul Hoffmann aufgeworfen\1\. Hoffmann und vor ihm andere
sehen den ersten Anklang Kleists an Goethe in der Briefstelle
vom 12. November 1799, aus welcher Kleists Sehnsucht
nach einem guten Gedicht, einem schönen Gemälde, sanften Liede,
das ihm jeder Tag bringen möchte, spricht. Ganz abgesehen
davon, daß die Analogie mit dem Ausspruch Serlos bei Goethe
keineswegs vollkommen ist, so ist diese oft bei Kleist variierte
und wiederholte Wunschäußerung so ganz aus dem Herzen Kleists
gesprochen, daß ich nicht glaube, daß sie durch die Lektüre
angeregt ist\2\. Hingegen kann kein Zweifel bestehen, daß die zweite
von Hoffmann angeführte Briefstelle ach, warum kann
ich dem Wesen, das ich glücklich machen sollte, nichts gewähren
als Tränen? usw. eine fast wörtliche Entlehnung aus
den Lehrjahren ist. Der Brief mit dieser Entlehnung ist geschrieben
am 21. Mai 1801. Im Februar hat Kleist seiner Schwester
gemeldet, daß er am liebsten in den jüdischen Kreisen verkehrt.
Alles spricht dafür, daß die erste Anregung sich mit Goethe
zu beschäftigen für Kleist von hier ausging. Im nächsten Jahre
schon war die Verehrung für Kleist so gestiegen, daß er, wie
wir durch Zschokke wissen, ihm als der Messias der deutschen
Literatur galt. Es spricht für den Einfluß der Rahel auf Kleist,
daß seine nächsten Freunde, soweit sie zu der Rahel in intimer
Be- <69:> ziehung standen, so v. Pfuel, Gualtieri,
v. Marwitz, glühende Verehrer Goethes waren, während
u. a. Rühle dem Dichter, mit dem er vielfach in Berührung
kam, gleichgültig gegenüberstand\1\.
Unter
allen Freunden Kleists in dieser Periode seines Lebens hat
keiner so entschieden auf die geistige und ethische Entwicklung
Kleists eingewirkt als Ludwig v. Brockes, und es ist
wohl kein Zufall, daß die schwersten geistigen Kämpfe, die
größten Schwankungen seiner Gemütsverfassung in der Zeit einsetzten,
als Brockes durch ein Amt gezwungen war, Berlin zu verlassen
und sich von Kleist zu trennen. Zur Kenntnis dieses Mannes,
dem Kleist so viel zu verdanken hatte, dessen Uneigennützigkeit
und Aufopferungsfähigkeit ihm ein leuchtendes Beispiel für
sein ganzes Leben wurde, den er den vortrefflichsten
der Menschen nennt, ein Urteil übrigens, das wir bei
Varnhagen und Robert bestätigt finden, habe ich die ersten
wenn auch spärlichen authentischen Angaben geliefert (Kleist-Problem).
Meine Angaben sind von Minde-Pouet (Briefkommentar) angezweifelt
worden, und auch von anderer Seite sind abweichende Angaben
gemacht worden, ohne daß aber neues verwertbares Material
beigebracht wurde. Was ich bei meinen Angaben benutzt habe,
stützt sich auf die Tradition nicht einer einzelnen, sondern
mehrerer unabhängiger Familien, in denen einzelne Mitglieder
mit großer und eifriger Pietät ebenso wie mit wissenschaftlichem
Fleiß alles bewahrt haben, was sich auf dieses hervorstechende
Familienmitglied bezog; das dokumentarische Material, welches
noch vorhanden ist, sind die Tagebucheintragungen von Brockes\2\,
reichliche Stammbuchblätter aus verschiedenen Perioden, der
Adelsbrief der Familie, eine korrigierte Familienchronik,
die <70:> von mit mitgeteilte Notifikation. Durch
einen Fund in der Königlichen Bibliothek habe ich mein Material
bereichert. Ich komme später darauf zurück. Zunächst will
ich gegenüber allen Einwendungen das feststellen, was wir
nunmehr positiv wissen.
\1\ Arno Eichhorn:
Zu Heinrich v. Kleists Katechismus der Deutschen. Sonderabdruck.
München 1906.
\1\ Goethe
und Heinrich v. Kleist. Goethe-Jahrbuch XXIX.
\2\ Es sei hier
erwähnt, daß auch bei Goethe sich dieser tägliche Wunsch oft
wiederholt. Die gleiche Analogie mit der Kleistschen Briefstelle
wie die gewöhnlich angeführte Stelle aus Wilhelm Meister findet
sich in der Äußerung Goethes vom 30. Mai 1814, die sich
in den Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich v. Müller
findet: Der Mensch mache sich nur irgendeine würdige Gewohnheit
zu eigen, an der er sich die Lust an heiteren Tagen erhöhen
und in trüben Tagen aufrichten kann. Er gewöhne sich z.B.,
täglich in der Bibel oder im Homer zu lesen, oder Medaillen
oder schöne Bilder zu schauen, oder gute Musik zu hören.
\1\ Vgl. hierzu
meine Aufsätze über Goethe und v. Pfuel, Sonntagsbeilage
der Voss. Ztg. 1904 Nr. 15 und 1905 Nr. 3 und
über Rahels Freunde und Goethe, Goethe-Jahrbuch XXX.
\2\ Auszüge aus
dem Tagebuch sind den von mir herausgegebenen Kleistbriefen
an Ulrike beigefügt. Berlin 1905.
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