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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 55-60

Das Haus Cohen und andere Gesellschaftskreise während Kleists erster Berliner Periode (1800-05)

Wilh. Neumann an Varnhagen:
Die arme Cohen schmachtet und quält sich immer noch in dem alten Wuste. Jeder Tag bringt sie dem Untergang näher, und sie sieht ihm mit einer schrecklichen Ruhe entgegen. Es ist herzzerschneidend, sie so zerrissen und doch so milde zu sehen (29. November 1808).
Die arme Mad. Cohen! noch immer führt sie kein besseres Leben. Cohens Zurückkunft verschiebt sich noch, gewiß bis zum Februar. Sähe er ein, was ihm und anderen gut ist, er käme wohl nimmer (10. Dezbr. 1804).
Für die Cohen sehe ich gar kein Mittel, ich sehe sie langsam auf einen Abgrund zugehen, der sie zu verschlingen droht, und daß sie selbst ihn immer vor Augen hat, muß ihr nicht einen Moment der Ruhe lassen (6. Dezember 1806). <56:>
Von der Cohen ist wenig zu sagen. Ihre Lage ist wenig verändert und mehr zum schlimmen, also höchst elend noch immer, und gar keine Aussicht auf bessere Zeiten (20 Februar 1810).

Bernhardi an Varnhagen:
Der älteste Sohn der Madame Cohen ist krank, sehr krank, und der Arzt macht wenig Hoffnung. Es wird also Ihrer Freundin vielleicht sehr tröstend sein, wenn Sie hierherkommen (13. Februar 1807).
Man muß Achtung für eine Frau (scil. Fr. Cohen) haben, die bei drei Kranken im Hause sich so ganz aufrecht erhält (21. März 1807).

Die folgenden Äußerungen über die Cohen finden sich in den Briefen Chamissos an seine Freunde:
Ich endige jetzt sein (Varnhagens) Porträt für die Cohen, sie selber bat mich unbefangen darum, doch setzte sie hinzu, sie möchte von diesem Pfande schweigen, so viel Leute hätten keinen Sinn für Verhältnisse der Freundschaft (Berlin 1805).
Die innig verehrte Cohen sehe ich weniger, als ich möchte, ich finde sie selten zu Hause (6. August 1805).
Wie anbetungswürdig ist die Cohen, dieses in seiner Demut herrliche Weib (20. September 1805).
Aus einem Wettringen bei der Cohen wäre bald trotz unserem allseitigen Hemmen ein entsetzlicher Kampf entstanden – – – Von der Sander, der Cohen und anderen habe ich mit Tränen den Abschiedskuß empfangen (19. Oktober 1805).

Die kurzen Notizen, die ich hier zusammengestellt habe, geben uns kein klares Bild der Frau, die in der Berliner Gesellschaft jener Zeit ohne Zweifel eine hervorragende Rolle spielte und berichten uns auch nicht von greifbaren Tatsachen, wir erhalten nur Andeutungen über ihren Charakter, ihre Eigenart und über traurige Vorgänge, die für uns im Dunkel bleiben. Der einst so groß angelegte Hausstand wurde von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Wir dürfen aus allen Andeutungen wohl schließen, daß eheliche Differenzen vorlagen, Verfehlungen des geistig unbedeutenden und närrischen Mannes. Frau Cohen, wie erwähnt, eine geborene Bernhardt, stammte aus Breslau; sie war verschwägert mit der als Schrift- <57:> stellerin bekannten Esther Gad, die in Berlin im Hause der Cohen zu wohnen pflegte. Das wissen wir aus dem Tagebuch der Henriette Herz, welche auch erzählt, daß sie im Hause der Cohen die hier aufgenommene Madame de Genlis besuchte. Es läßt sich annehmen, daß auch Kleist hier bei den Cohens die Bekanntschaft der de Genlis machte, deren er als einer gemeinsamen Bekannten in dem Briefe an Ulrike vom 14. März 1803 Erwähnung tut.
Die zitierten Briefstellen beweisen, daß das Haus Cohen von schweren Schicksalsschlägen befallen wurde, und daß die von ihren Freunden bewunderte, an glänzende Verhältnisse gewöhnte Frau in schwere materielle Not geriet. Es sind zahlreiche Briefe der Frau aus späterer Zeit im Nachlaß Varnhagens vorhanden, welche beweisen, daß sie weiter mit Rahel und Varnhagen intim befreundet, von ihnen regelmäßige Geldunterstützungen erhielt; eine Tochter von ihr heiratete im Jahre 1825 einen Dr. Kiehl in Haag; auch sonst findet sich ihr Name auch in späterer Zeit noch oft in den Briefen der Freunde. Varnhagen erwähnt ihrer in wehmütiger Stimmung noch kurz vor seinem Tode in seinem Tagebuch, als er den Wilhelm Meister, welchen sie ihm einst geschenkt, zur Hand nimmt. Über ihren Sohn findet sich eine Notiz bei Börne in einem Briefe an die Herz vom 30. Juni 1805: „Vom jungen Cohen habe ich erfahren, daß Sie vielleicht von Dresden über Leipzig zurückfahren werden.“ Nach allem, was wir den angeführten Äußerungen auch dem Stil ihrer eigenen Briefe entnehmen können, scheint Frau Cohen im Gegensatz zu ihrem Manne eine geistig hochstehende Frau gewesen zu sein, eine tüchtige Hausfrau, eine aufopfernde Freundin, die nicht, wie die Sander, die Eibenberg, Grotthus und Saling die Rolle der Frau von Bildung spielte, sondern wirklich eine solche war.
Im Hause dieser Frau verkehrten, wie erwähnt, die Freunde vom „Nordstern“, eine Vereinigung von Dichtern und Schriftstellern, die zunächst wohl nur gesellige und schöngeistige Tendenzen verfolgte. Die Vereinigung spielt auch literarisch <58:> insofern eine Rolle, als aus ihrem Schoße als Nachahmung von Goethes Wilhelm Meister ein Stück Zeitgeschichte in Romanform unter dem Titel „Die Versuche und Hindernisse Karls“ hervorging. Die romantische Richtung, welche die Dichter vom „Nordstern“ vertraten, mag so wenig nach dem Geschmack des jungen Kleist gewesen zu sein, daß er es aus diesem Grunde wohl vorzog, sich als Dichter in diesem Kreise nicht erkennen zu geben. Das hindert natürlich nicht, daß Kleist einen regen freundschaftlichen Verkehr mit diesem Kreise unterhielt, ein Verkehr, der nicht, wie Zolling will, erst nach der Rückkehr aus Paris begonnen, sondern, wie die Erwähnung des Hauses Cohen beweist, in das erste Jahr von Kleists Anwesenheit in Berlin zurückreicht. Allmählich scheint der „Nordstern“ eine festere Gestalt angenommen, und er scheint unter dem Drucke der Fremdherrschaft aus dem schöngeistigen Verbande sich zu einem politischen Bunde entwickelt zu haben. Ich entnehme diese Tatsache einem aus dem Jahre 1808 stammenden Gedichte des schwedischen Gesandten v. Brinckmann, das an einen Kriegsruf erinnert und „Der Nordstern“ betitelt ist. Das Gedicht, welches bisher unveröffentlicht, auch unter die gesammelten Gedichte des Verfassers nicht aufgenommen ist, lautet:

Pillau, Frühjahr 1808
Nein! Er wird nicht untergehen, der helle
Stern des Nordens! Heitre deinen Blick!
Aus des Meeres sturmbewegter Welle
Schimmert noch sein schönes Bild zurück.

Ewig treu dem rüstigen Piloten
Weilet Er, wenn seine Brüder fliehn,
Selbst den Wolken, die uns Schiffbruch drohten,
Wird nun herrlicher sein Strahl entglühn.

Von der Heimat lieblichen Gestaden,
Von des Friedens stillen Buchten fern,
Auf des Abgrunds nie beschifften Pfaden –
Trauen kühn wir diesem Wunderstern. <59:>

Nur dem Zweifler leuchtet er vergebens,
Der, wenn schäumend sich die Flut erhöht,
Nacktes Leben, nicht den Preis des Lebens,
Feige Rettung, nicht den Sieg erfleht.

Der getäuscht an Uferklippen strandet
Wenn des Ozeans geprüfter Held
Später nur im sichern Hafen landet,
Wo die Freude seine Segel schwellt:

Wo er festlich den versöhnten Göttern
Vom Orkan zerrissne Wimpel weiht,
Und den Kampfgefährten, den Errettern
Seines Ruhmes, Lorbeerkränze beut.

Trotzig dürfen wir das Haupt erheben,
Weil kein Sturm noch unsre Masten brach;
Nicht am Ufer, auf der Höhe streben
Wir der Zukunft goldnem Vließe nach.

Unser Schiff, das Göttersöhne bauten –
Zu den Sternen schwebt es nicht empor!
Dann, erzeugt vom Stamm der Argonauten,
Sprießt ein heiliges Geschlecht hervor.

Glaube fest: Noch glüht im edlen Herzen
Kraft zu dulden, Mut zu widerstehn!
Mag Gewitternacht den Himmel schwärzen,
Der Polarstern wird nicht untergehn!

Der Verkehr zwischen Kleist und Varnhagen mit seinen Freunden sowie mit dem Hause Cohen wurde vermittelt durch Alexander von zur Lippe. In Varnhagens Denkwürdigkeiten ist von ihm wenig die Rede, aber wer aufmerksam liest, erkennt leicht, daß von ihm immer nur im Zusammenhang mit seinen Freunden Brockes und Kleist gesprochen wird, und auch auf einer Zettelnotiz, die sich in Varnhagens Nachlaß vorfindet, ist über Alexander Reichsgraf zur Lippe nur erwähnt, daß er ein Freund Rahels, des Cohenschen Hauses, der Herren v. Brockes und Heinrichs v. Kleist gewesen ist. Die Freundschaft <60:> mit Brockes datiert aus der Studentenzeit, wie eine Eintragung im Stammbuche v. Brockes beweist; in Berlin mag dann Brockes die Freundschaft zwischen Kleist und v. z. Lippe vermittelt haben. Die Freundschaft der beiden muß namentlich in der ersten Zeit von Kleists Berliner Aufenthalt, wie die Andeutungen bei Varnhagen erraten lassen, eine sehr intime gewesen sein. Die Kleistschriften erwähnen wohl gelegentlich und ganz flüchtig diese freundschaftliche Beziehung, aber sie bringen nichts, was imstande wäre, die Persönlichkeit und den Charakter dieses Mannes näher zu rücken. Meine Bemühungen, bei verschiedenen noch lebenden Mitgliedern der Familie Material über Kleist und seine Beziehung zu A. v. z. Lippe zu sammeln, waren vergebliche. Hingegen aber besitze ich von einem nahem Familienmitgliede genauere Angaben über seinen Lebenslauf und Charakter, die uns in die Lage versetzen, im Zusammenhang mit den gedruckten und ungedruckten Notizen Varnhagens uns ein Bild von seiner Eigenart zu machen.


Emendationen
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in wehmütiger] inwehmütiger D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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