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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 50-55

Das Haus Cohen und andere Gesellschaftskreise während Kleists erster Berliner Periode (1800-05)

II. Kapitel

Das Haus Cohen und andere Gesellschaftskreise während Kleists erster Berliner Periode (1800-05).

Als Kleist im Sommer 1800 nach Berlin kam und sich im Zoll- und Akzisedepartement beschäftigte, fand er einen großen Kreis von Freunden aus dem Offiziersstande vor, und es standen ihm Häuser offen, in denen sich die höchsten Vertreter des Militärstandes und Verwaltungskörpers bewegten. Das gastfreie Haus des Obersten Otto v. Kleist, der seit 1797 Direktor der école militaire war, und das wir schon im vorigen Kapitel öfters zu erwähnen Gelegenheit hatten, war der Mittelpunkt des geselligen Treibens. Daß dieser einflußreiche Mann auf das Geschick Kleists und seiner Freunde stark einwirkte, dafür haben wir zahlreiche Anhaltspunkte, und daß er und die Männer, welche in seinem Hause ein- und ausgingen, den Lebensgang Pfuels und Rühles vielfach bestimmten, haben wir im vorhergehenden erfahren. Kleist erwähnt ihn nur einmal nebenher (27. Juli 1804), aber gelegentlich spricht er von einem „Kleisten“, d. h. also von einem Mitgliede seiner Familie, das er ebenso vertraulich benennt, wie den ihn nahestehenden Christian v. Kleist in Potsdam. „Ich grüßte Kleisten auf der Promenade, und ward durch eine Einladung zu heute Abend gestraft, denn dies ist wider meinen Plan“ schreibt Kleist an Wilhelmine aus Berlin, am 16. August 1800 und vier Tage später an die gleiche Adresse: „Ich hatte am zweiten Abend vor meiner Abreise bei Kleisten gegessen usw.“ <51:> Mit diesem „Kleisten“\1\ kann nur der Direktor der école gemeint sein. Wir werden schließlich auch dadurch auf die nahe Beziehung zum Hause dieses Verwandten gebracht, weil die Offiziere, mit denen Kleist in Berlin auf das vertrauteste verkehrte, fast noch alle in der école waren oder doch durch sie hindurchgegangen waren. Außer den Kameraden in Potsdam, die, wie oben bemerkt, den Verkehr mit Kleist fortsetzten, gehörte zu diesen Freunden in Berlin Gleißenberg, welcher selbst Lehrer der école wurde, außerdem Luetzow (s. S. 35) und der junge Zenge, der Bruder der Braut.
Carl Friedrich Georg v. Zenge war ein Altersgenosse von Kleist, auch er war im Oktober 1777 geboren. Nach seiner Ausbildung in der école militaire wurde er am 8. Februar dem Infanterieregiment von Kunheim Nr. 1 als Portepeefähnrich überwiesen und am 6. Oktober 1797 zum Sekondlieutenant befördert. Karl von Zenge war in Berlin in den ersten Jahren von Kleists Anwesenheit der vertrauteste und tägliche Umgang mit Kleist; das beweisen zahlreiche Andeutungen in den Briefen an seine Braut, und dafür spricht die Tatsache, daß Kleist, wie aus dem Briefe vom 11. Januar 1801 zweifellos hervorgeht, mit Zenge sein Zimmer gemeinsam innehatte. Karl v. Zenge starb ganz plötzlich am 30. Januar 1802, und Wilhelmine teilte Kleist den Tod am 10. April nach der Schweiz mit. In der Vossischen Zeitung vom 9. Februar 1802 findet sich unter Todesfälle die folgende Anzeige:
„Nicht gewöhnliches Ceremoniell, nicht Wortgepränge, Überzeugung macht es uns zur Pflicht, bei dem am 30. Jan. d. J. so schnell und unvermuthet erfolgtem Ableben des Sekondelieutenants und Adjutanten Carl Friedrich George von Zenge unser Beileid zu bezeugen, denn wir verlieren aus unserer Mitte einen gebildeten und rechtschaffenen Offizier, <52:> dessen Andenken gewiß jedem, der ihn näher kannte, wert bleiben wird. Berlin den 4ten Febr. 1804.“
Das Korps der Offiziere des Regiments Graf von Kunheim und Grenadier-Bataillon von Kleist.
Wenige Tage später am 13. Februar 1802 brachte die Vossische Zeitung die Anzeige der Familie:
„Einer der härtesten Schläge, bei unsern zwar zeitherigen glücklichen Familienverhältnissen hat uns getroffen, indem es der Vorsehung gefallen, uns unsern ältesten lieben und hoffnungsvollsten Sohn und Bruder, den Kgl. Preuß. Lieutenant Gräfl. v. Kunheim’schen Inf.-Reg. Grenadierbat. v. Kleist Carl Friedr. George v. Zenge durch den Tod zu entreißen. Er starb zu Berlin am 30. Jan. d. J. am Entzündungsfieber, in seinem 25. Jahre. Verwandte, Freunde und Bekannte verschont uns mit schriftlichen Beileidsbezeugungen, indem wir uns eurer stillen Theilnahme versichert halten. Frankfurt an der Oder, den 9. Febr. 1802.
von Zenge, Generalmajor.
von Zenge, geb. von Wulffen und sämmtl. Geschwister des Verewigten.“
Es ist begreiflich, daß der junge Beamte, dem es mit seiner neuen Stellung nicht recht Ernst war, der sich als Apoll im Knechtsdienst fühlte, und dem als „höheres Ziel“ die Ausbildung seiner Fähigkeiten und seiner dichterischen Anlagen vorschwebte, sich in den ästhetischen Kreisen der Residenz besonders wohl fühlte. Die Kreise, welche damals die höhere Bildung, das Ästhetentum, die schönen Wissenschaften und Künste pflegten, waren die jüdischen, und es kann uns deswegen nicht Wunder nehmen, wenn schon im Anfang des Jahres 1801 Kleist sich in einem Briefe an seine Schwester äußert: „In Gesellschaften komme ich selten. Die jüdischen würden mir die liebsten sein, wenn sie nicht so pretiös mit ihre Bildung täten. An dem Juden Cohen habe ich eine interessante Bekanntschaft gemacht, nicht so wohl um seinetwillen usw.“ <53:>
Wir werden mit dieser Äußerung Kleists auf das Haus Cohen als den Mittelpunkt eines großen gesellschaftlichen Kreises hingewiesen, ein Haus, das uns aus Varnhagens Denkwürdigkeiten in der Tat als ein gebildetes und vornehmes bekannt ist. Varnhagen schildert es mit seinen eleganten Einrichtungen und seinem umfangreichen Park und erzählt, daß er auf den Rat seiner Freunde hier eine Hauslehrerstelle annahm, hauptsächlich um nach schwerer Erkrankung unter den günstigen Lebensbedingungen rasche Erholung zu finden. Was sonst über dieses Haus berichtet wird, ist unkontrolierbarer Klatsch: Varnhagen wird ein intimes Verhältnis zur Hausfrau nachgesagt\1\. In den „Versuchen und Hindernissen Karls“ ist Cohen in offensichtlicher Weise mit alles weniger als hervorragenden Eigenschaften gezeichnet. Wir sind über die jüdischen Kreise aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts viel mangelhafter unterrichtet, als aus der Zeit, in der Heinrich Heine zwei Jahrzehnte später in Berlin lebte, und auch über das Haus Cohen, dem Kleist an der zitierten Briefstelle eine exzeptionelle Stellung in der Berliner Gesellschaft anweist, ist bisher tatsächliches Material nicht erbracht. Wenn Minde-Pouet in dem Kommentar zur angeführten Briefstelle auf das Buch Geigers verweist „aus Chamissos Frühzeit“, so wird der Leser in dem Buche vergeblich nach neuen Beiträgen in dieser Richtung suchen.
Was ich an neuem Material auftreiben konnte, gibt mehr Andeutungen als direkte Aufschlüsse. Ezechiel Benjamin Cohen aus Holland hatte am 6. Dezember 1786 das Generalprivileg und die Rechte christlicher Kaufleute erhalten. Das Haus Cohen spielt in den Briefen der jungen Dichter und Literaten, die sich als „Nordstern“ bezeichneten, t o › t o u ˜ p o l o u  a s t r o n und ihrem Namen echt studentisch die Anfangsbuchstaben der fünf griechischen Worte beifügten, die größte Rolle, und in kaum <54:> einem der Briefe fehlt ein Gruß an ein Mitglied der Familie oder eine kurze Bemerkung über sie. Es ist kein Zweifel, daß das Haus den Mittelpunkt der Nordstern-Freunde bildete, zu denen Chamisso, Varnhagen, Wilh. Neumann, Bernhardi, Brinckmann u. a. gehörten. Dabei tritt in den brieflichen Äußerungen der Hausherr selbst, der ja auch in dem Berliner Roman der Freunde sehr schlecht abschnitt, vollständig zurück, und man sieht, daß sich das Interesse der jungen Schriftsteller und Dichter ausschließlich vereinigt auf die Hausfrau, die mit ihrem vollen Namen Philippine Cohen geb. Bernhardt hieß und aus Breslau stammte. Ihr allein gilt der Gruß der Freunde, ihr literarisches Urteil wird angerufen, ihr tragisches Schicksal, über welches wir nur Vermutungen aufstellen können, wird bedauert. Ich gebe einige briefliche Äußerungen aus ungedruckten Briefen wieder. Varnhagen an Neumann:

Schreibe mir doch verkündigend, wenn sich mit der guten lieben Cohen etwas Bedeutendes zutragen sollte (Hamburg 19. September 1804).
Gieb mir zu Liebe an Mad. Cohen eine Abschrift von dem Gedicht (Anfang Dezember 1804).
Mad. Cohen wird Dir ein Sonett Ernst und Scherz nebst dessen Deutung mittheilen. – Es freut mich, daß C. noch wegbleibt. – Grüße Mad. Cohen von mir mit aller Herzlichkeit (Weihnachten 1804).
An Mad. Cohen meinen herzlichsten Gruß, das göttliche Weib lasse nicht Deine Trennung zu hart empfinden, theile ihr schon jetzt Deine Absicht mit, ihre Liebe zu Dir verdient das Vertrauen, ihr Unglück den Trost Deiner Anhänglichkeit (Januar 1805).
Mad. Cohen hat viele Sorgen; Efr. hält noch immer das Geld zurück, die Kasse sieht erbärmlich aus und dabei hat sie jeden Augenblick Einquartierung zu befürchten; ein Zimmer hat sie schon den Franzosen eingeräumt, die aber zum Glück nicht von ihr gespeist zu werden brauchen. Wie sehr Dich die gute Cohen grüßen läßt, kannst Du Dir denken, sie hat immerfort an Dich gedacht. – – Mad. Cohen schreibt bald; aber sie grüßt Dich von ganzer Seele; sie liebt Dich recht inniglich (Berlin, den 22. Novbr. 1806).

Varnhagen an Chamisso:
Auch will ich Dir nicht verhehlen, daß für mich jede solche Stelle ein langsamer Tod ist, wie mir Fichte wohl profezeit hat, denn jetzt, da nicht <55:> mehr, wie bei Cohens, reizende Fantasiegebilde vor mir schweben, wenn ich die Hausdamen betrachte, kann ich erst recht urteilen – – – Siehst Du die Cohen nicht? wie geht es? ich weiß nichts!! O! (März 1805).
Meine prosaischen Vertheidigungen werden Dir durch Mad. Cohen wohl geworden sein – – – Du besuche Mad. Cohen in meinem Namen (April 1805).
Einigen meiner besten Sonette hat Mad. Cohen grausam das Imprimatur verwehrt, und ich habe wenig Hoffnung, sie zu erhalten (Juni 1805).
Die gute Cohen sieht neueren Leiden entgegen, die Unmöglichkeit, daß ich es anders als durch Rat änderte, wird mir nicht den tiefen Schmerz ersparen, wohl aber die Ruhe geben, daß ich nicht, mich abmühend für das Gefühl, den ersten Lebensweg verliere. Ich habe ihr strenge Worte und herzlich geschrieben; möchte der Urheber alles Übels in dieser Familie nie wieder in sie zurückkehren, das ist der Wunsch, den ich durch redlichen Rat zu erfüllen suche (22. November 1805).
Mad. Cohen hat mir geschrieben, daß Fichte für immer nach Erlangen geht, er hat sich oft sehr angelegentlich nach uns beiden erkundigt (26. Mai 1806).
Die gute Cohen lebt ruhig fort in allen tausend Bedrängnissen, wie schön Du in ihrem Gedächtnisse lebst, ist Dir bekannt genug; das herrliche Weib ist gut und stark ohne Gleichen (7. Januar 1807).
Am meisten bin ich bei Frau Cohen, die mehr Trostes bedarf, als ich ihr geben kann (15. Oktober 1806).
Frl. von Sellentin hatte eine Theil ihres Vermögens an Mad. Cohen und ihre Kinder vermacht (2. Juni 1831).

\1\ Minde-Pouet begnügt sich mit der Fußnote: ein Verwandter?
\1\ Nach der sehr umfangreichen, noch unbenutzten Korrespondenz der Kgl. Bibliothek läßt sich eher eine intime Beziehung zu Wilhelm Neumann vermuten.


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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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