Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil.
Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885])
(Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, CI-CV
Nachwirkung
Auch den poetischen Werken Kleists hatte ungerechtes Vergessen gedroht. Sein Freund Ludwig
Tieck hat sie dem Untergang entrissen und sich durch ihre Herausgabe, der leider
philologische Sorgfalt fehlt, ein großes Verdienst erworben. Er las die
Hermannsschlacht und besonders den Prinzen von Homburg öffentlich
vor und gewann diesen Dramen Freunde, so daß er sie drucken lassen konnte. Dieses geschah
1821 in der Ausgabe von Kleists hinterlassenen Schriften, denen Tieck eine
wertvolle biographisch-ästhetische Vorrede beigab, und schon 1826 konnte er in drei
Bänden Kleists gesammelte Schriften mit erweiterter Biographie veröffentlichen,
denen 1846 eine vierbändige ausgewählte Ausgabe folgte. Während der langen Zeit bis
1848 blieb Tieck der einzige Biograph Kleists, und machte namentlich und mit Erfolg für
die Bühnenaufführung seiner Dramen Propaganda. Er regte auch Eduard von Bülow zu dem verdienstlichen, obgleich unkritischen
Buche: Kleists Leben und Briefe an, dessen biographische Einleitung dankenswerte
Notizen enthält aus dem Munde von Kleists überlebenden Freunden (Rühle, Tieck, Pfuel,
Fouqué) und Freundinnen, namentlich von Marie von Kleist, Karoline von Schlieben, Frau
Adam Müller, Wilhelmine von Zenge und deren goldenen Schwester. Das
Wertvollste sind die Briefe, vornehmlich an seine Braut, nebst einigen verschollenen
Gedichten, Aufsätzen und Dokumenten. Bülow beeinträchtigte sein Verdienst dadurch, daß
er Wahrheit und Dichtung vermengte und von dem ihm zugänglichen Material nur einen
bescheidenen Bruchteil veröffentlichte. Biographisch trat endlich Julian Schmidt
zunächst 1849, dann in seiner Litteraturgeschichte und ausführlicher 1859 in seiner
Einleitung zur revidierten und ergänzten Tieckschen Ausgabe unserem Dichter näher, indem
er zugleich neue Nachrichten z. B. von Friedrich Dahlmann mitteilte, einige Gedichte
aus dem Phöbus der Vergessenheit entriß und in der Kritik der Werke über
Tieck hinausgelangte. In den drei folgenden Jahren kamen dazu die Veröffentlichungen von August
Koberstein: Kleists Briefe an Ulrike; von Emil Kuh: Die Quelle des Kohlhaas;
von Rudolf Köpke: Kleists politische Schriften und andere Nachträge zu seinen
Werken nach seltenen Drucken und Handschriften. Auf Grund dieses Materials, das noch durch
die Briefwechsel <CII:> von Tieck, Solger, Gentz, Raumer, Fouqué, Zschokkes
Selbstschau, Varnhagens Denkwürdigkeiten und Rahel, Launs
Memoiren, I. W. Teichmanns Litterarischen Nachlaß, Hoffmanns von
Fallersleben Findlinge, Peguilhens Berühmte Schriftsteller der Deutschen
Bereicherung erfahren, konnte es Adolf Wilbrandt 1863 wagen, uns mit der ersten
Kleist-Biographie zu beschenken, welche, trotz empfindlicher Lücken, eine feinsinnige und
nahezu erschöpfende Charakteristik Kleists und seiner Werke enthält. Hieran reihten sich
Schillmanns Schulprogramm über Kleists Jugend, die Familie Schroffenstein und ein
wiedergefundenes Fragment aus dem Katechismus der Deutschen; Heinrich von
Treitschkes Monographie über Kleist, Paul Lindaus Mitteilungen über ein
politisches Manifest und die letzten Lebenstage Kleists aus Peguilhens Nachlaß, Prorektor
Schwarzes Korrektur des Datums von Kleists Geburtstag und Nachrichten über Eltern und
Geschwister; Karl Siegens Arbeiten über den Zerbrochnen Krug, Kleists Familie und
dessen Tauf- und Totenschein, O. Wenzels Urkunden über Kleists letzte Berliner
Jahre, Hans von Wolzogens Monographieen über Kleist und den Prinzen von Homburg, B. Erdmannsdörfers
und Yorcks von Wartenburg Mitteilungen über eine Handschrift des Prinzen von
Homburg; K. Varrentrapps Untersuchung über den Prinzen von Homburg in
Geschichte und Dichtung, Wilbrandts Vorwort zu Kleists Aufsatz über die
allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden; Rudolf Genées Einleitung zu
seiner Bühneneinrichtung der Hermannsschlacht; Jonas Buch über
das Körnersche Haus; Wilhelm Vollmers Herausgabe von Kleists Geschäftsbriefen an
Cotta; Karl Biedermanns Edition sämtlicher erhaltener Briefe Kleists an
Wilhelmine; Franz Munckers Forschungen über die Quellen der Marquise von O****, Erich
Schmidts gehaltvolle Abhandlung über Kleist, Otto Brahms umfangreiche
Monographie; Felix Bambergs Lebensbeschreibung in der Allgemeinen deutschen
Biographie, H. Isaacs Schuld und Schicksal im Leben Kleists; und endlich meine
eigenen Arbeiten über das Urbild des Zerbrochnen Kruges, Kleist in der Schweiz und
Nachträge zu Kleists Leben. Neuerdings hat Ch. Semler den Zerbrochnen
Krug für den Schulunterricht dargelegt und Heinrich Weismann eine
Schulausgabe des Prinzen von Homburg mit Einleitung und Anmerkungen
veranstaltet. Auch das Ausland nahm sich jetzt unseres Dichters an: der Prinz von
Homburg erschien in englischer, Michael Kohlhaas in englischer und
französischer, der Zerbrochne Krug in französischer Übersetzung, und in Francis
Lloyd und William Newton (Prussias Representative Man) in
London, Dietrich Stjernstedt in Upsala, Xavier Marmier, Auguste Dietrich, A.
de Loustalot und Catulle Mendès in Paris fand Kleist begeisterte
Erklärer seines Lebens und seiner Werke. Ebenso hat sich die deutsche Bühne auf ihre
Ehrenschuld besonnen, das Käthchen von Heilbronn und den Zerbrochnen
Krug ins Repertoire aufgenommen, die <CIII:> Hermannsschlacht und
den Prinzen von Homburg vielfach zur Darstellung gebracht und sich an
Penthesilea und Familie Schroffenstein versucht. Die Säkularfeier
seiner Geburt wurde zwar noch nicht wie die Grillparzers in Österreich als Nationalfeier
von der ganzen Nation begangen, aber sein Bild ist in weiten Kreisen lebendig geworden und
hat auch auf die Jugend gewirkt. Dadurch ist der Dichter für die Vernachlässigung, die
sein Leben und Wirken noch lange nach seinem Tode erfuhr, nachträglich entschädigt
worden. Er lebt und steigt täglich in der Verehrung und Liebe unserer Nation.
Wir bieten hier den ersten
Versuch einer historisch-kritischen Ausgabe von Kleists sämtlichen Werken. Die
biographische Einleitung will eigentlich nicht viel mehr als ein Nachtrag zu den
Monographien von Julian Schmidt und Wilbrandt sein. Eine gleichmäßige Ausarbeitung
verbot schon der geringe verfügbare Raum. Sie behandelt ausführlich nur jene Partieen in
Kleists Leben, die erst nach Wilbrandts Monographie durch die Forschung aufgeklärt
wurden. Für die bisher so sehr im Dunkel gebliebenen Abschnitte: Kindheit und Jugend
waren wir so glücklich mündliche Mitteilungen von Kleists Nachkommen zu erhalten, die
uns auch das einzige Bild des Dichters zur Verfügung gestellt haben; die Schweizer Jahre
sind nach unserer Monographie dargestellt, die in den Nachträgen zu Kleists
Leben Ergänzung und Berichtigung erfuhr; mehrere neu aufgefundene Briefe haben eine
neue Darstellung von Kleists Reise mit Pfuel, seines Verhältnisses zu den Schwestern von
Schlieben und Lohse, der Redakteurszeit des Phöbus und der Berliner
Abendblätter u. s. w. möglich gemacht. Daß wir die in einer
bereits vergriffenen Nummer der Gegenwart zuerst abgedruckten Briefe als
Nachtrag zur biographischen Einleitung reproduzieren, vervollständigt und durch die
Briefe aus dem Geh. Staatsarchiv bereichert, die O. Wenzel weder komplett noch ganz
korrekt in der jetzt ebenfalls vergriffenen Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung v. 12.
und 19. Sept. 1880 veröffentlicht hat, wird jedem Leser willkommen sein.
Nicht geringe Schwierigkeiten
bereitete die chronologische Einordnung der Schriften nach der Zeit ihrer Entstehung. Zum erstenmal
in eine Gesamtausgabe aufgenommen wurden hier mehrere Gedichte, ferner erste Neudrucke
(aus den Berliner Abendblättern). Zum erstenmal gedruckt (nach der
Handschrift) erscheinen: Die Familie Ghonorez mit Entwurf: Familie Thierrez und der
Aufsatz: Die Kunst, den Weg des Glücks zu finden. Es war uns vergönnt die Handschriften
des Zerbrochnen Krugs, der Penthesilea, des Prinzen von Homburg, des Robert Guiskard und
verschiedener Aufsätze und Gedichte zur Feststellung des Textes heranziehen zu können,
sowie endlich einzelne Gedichte aus dem Privatbesitze von Autographensammlern. Zum Zwecke
der Textkritik wurden sämtliche Originalausgaben und Kleists Zeitschriften: Phöbus und
Berliner Abendblätter herangezogen. Auch Einzeldrucke, Fliegende <CIV:> Blätter,
Veröffentlichungen aus dem Nachlasse fanden sich noch zusammen, so daß jetzt wohl eine
möglichste Vollständigkeit in dieser Hinsicht erzielt ist. Die unerwartete Auffindung
der Familie Ghonorez läßt uns hoffen, daß ein günstiger Zufall früher
oder später auch noch etwa eine vollständige Fassung des Guiskard, die
verschollenen Jugendversuche: Peter der Einsiedler und Leopold von
Österreich, die Geschichte meiner Seele, die Schrift über Kants
Philosophie und vor allem Kleists zweibändigen letzten Roman, von dem wir zuerst Kunde
brachten, ans Licht bringen werde.\1\
In Bezug auf die Textkritik
war wenig vorgearbeitet, trotz der fleißigen Schrift Reinhold Köhlers: Zu Heinrich von
Kleists Werken, Die Lesarten der Originalausgaben und die Änderungen L. Tiecks und
Julian Schmidts, Weimar 1862 und gelegentlichen Vorschlägen von Gomperz, Erich Schmidt
und Heinrich Welti. Die Sache mußte vollständig von neuem angefaßt werden. In Betracht
kommen hier, von den Originalausgaben (O) und Handschriften (M)
abgesehen, in erster Linie folgende Editionen: Kleists gesammelte Schriften, herausgegeben
von L. Tieck 1826 (T); Kleists gesammelte Schriften, herausgegeben von
L. Tieck, revidiert, ergänzt und mit einer biographischen Einleitung versehen von
Julian Schmidt, Stereotypausgabe, 1874 (S) und Kleists hinterlassene Schriften,
herausgegeben von L. Tieck 1821 (Hint. Schr.). Nicht berücksichtigt wurden
Tiecks Titelausgabe: Kleists ausgewählte Schriften, Berlin, Reimer, 1846,
4 Bändchen, und die erste Ausgabe von Tieck-Schmidt von 1859, welche Julian Schmidt
durch die obige Stereotypausgabe von 1874 verbesserte. Schmidt hat in dieser Ausgabe, zu
der er wohl namentlich durch Reinhold Köhlers Ausstellungen veranlaßt wurde, einen
entschieden bessern Text geboten und manchen Wink seines Censors befolgt, so daß es
unbillig wäre, auf jene schlechtere erste Ausgabe zurückzukommen. Immerhin hätte er in
seiner Nachgiebigkeit noch etwas weiter gehen und namentlich seinen fragwürdigen
Standpunkt: handgreifliche Sprachfehler des Dichters wiederherzustellen, haben wir
uns aber nicht veranlaßt gesehen, nachgerade aufgeben können. Ein Herausgeber hat
kein Recht, dem Dichter das Pensum zu korrigieren, am allerwenigsten in solchen Fällen,
wo der Schnitzer mit Konsequenz durchgeführt ist und als Spracheigentümlichkeit zur
geistigen Physiognomie gehört. Die unselbständigen späteren Ausgaben von Heinrich Kurz
(Hildburghausen 1868, zwei Bände) und in der Gustav Hempelschen Samm- <CV:> lung
(1879, fünf Teile), die einfach den Text von Tieck-Schmidt wiederholen, haben wir gar
nicht berücksichtigt, und nur in wenigen Fällen die Ausgaben von Karl Siegen (Kleists
ausgewählte Dramen in Brockhaus Bibliothek der deutschen Nationallitteratur des 18.
und 19. Jahrhunderts, 1877, 2 Bde. mit Einleitungen) und Eduard Grisebach
(2 Bde., Leipzig, Reclam jun.), die sich zumeist an Köhler halten.
Zum Schlusse sind wir noch
eine Erklärung schuldig, inwieweit wir die Handschriften benutzt haben. Sie galten uns
als erste Autorität in Fällen, wo, wie beim Prinzen von Homburg, den
Gedichten und Kleinen Schriften, der erste Druck nicht von Kleist selbst besorgt wurde. Wo
Kleists Originaldruck vorliegt, ist die Handschrift nur von konsultativem Werte, da wir es
in erster Linie mit dem Text zu thun haben, den der Dichter durch sein Imprimatur
anerkannt hat. Wo Kleist sein Werk zweimal, zuerst in einer Zeitschrift, veröffentlicht
hat, bleibt die zweite Fassung der Originalausgabe maßgebend. Doch ist natürlich die
Handschrift für die Kritik der Lesarten von größter Wichtigkeit. In manchen Fällen
konnten die Druckfehler der oft sehr inkorrekten Originalausgaben, die sich durch alle
folgenden Veröffentlichungen wie eine ewige Krankheit fortgeschleppt haben, verbessert
werden. Mehrere solcher Druckfehler erklären sich jetzt durch die oft schwer zu
entziffernden Schriftzüge Kleists. An anderen Stellen konnten die vielen nachlässigen
Belassungen und eigenmächtigen Änderungen Tiecks mit einem Hinweis auf die Handschrift
abgewiesen werden. Reinhold Köhler hat fast überall recht behalten.
Wir können diese Einleitung
nicht abschließen, ohne vorher allen denen, die uns bei unserer schweren Arbeit mit Rat
und That zur Seite gestanden, unseren Dank auszusprechen. In erster Linie der Königl.
Bibliothek in Berlin, in deren Besitz Dahlmanns, Varnhagens, Tiecks und Köpkes Nachlaß
übergegangen, und dem Geheimen Staatsarchiv in Berlin, das uns ebenfalls die Benutzung
der Kleist-Akten mit gewohnter Liberalität gestattet hat; sodann den Nachkommen des
Dichters, vor allem seinem Neffen Major Theodor von Kleist und den Damen von Stojentin und
von Schönfeldt; dann den Herren Hans Grafen Yorck von Wartenburg, Dr. Emil
Peschel, Prof. Schwarze, Dr. R. Köhler, Dr. Faust
Pachler, Dr. Fr. Leitschuh, Dr. L. A. Frankl, Dr. C. v. Wurzbach,
Dr. Karl Siegen, Dr. Heinrich Reschauer, Frau Rätin Rudolph
und endlich den Herren Dr. Hermann Brandes und Dr. Oskar
Bulle, die uns bei der Textvergleichung und Korrektur zur Seite gestanden haben. Auch noch
viele andere Bibliotheken und Sammler leisteten unserem Appell Folge und unterstützten
uns mit brieflichen und bibliographischen Schätzen, Notizen und Auszügen; besonders
verpflichtet bin ich den Besitzern wichtiger Handschriften, deren Namen als Quelle
anzugeben ich niemals versäumt habe.
Berlin, Ende Juli
1885.Theophil Zolling.
- \1\ Johanna von Haza schreibt über Kleists
Manuskripte an Tieck, daß ihre Mutter außer der verloren gegangenen Geschichte
meiner Seele noch mehrere Hefte, von seiner eigenen Hand: Fragmente
überschrieben, besaß. Es waren wirklich nur solche; außer der Novelle
Josephe und Jeromino [Das Erdbeben in Chili] und der Erzählung vom Roßkamm [Michael
Kohlhaas] enthielten sie nur einzelne hingeworfene Ideen und Bemerkungen, die aber
größtenteils voll tiefen Sinnes waren und die gleichsam mehr zur Anschauung seiner Seele
dienen, als seine Dichtungen. (Briefe an Tieck II 175). Ebenfalls verloren sind
die Handschriften Kleists, die Rühle, zum Teil in Doppelmanuskripten, besaß: sie
verschwanden während seiner Abwesenheit in den Freiheitskriegen aus seiner Berliner
Wohnung, um wahrscheinlich infolge eines Mißverständnisses verbrannt zu werden. Bülow,
Vorr. IX, 41.
Emendation
auch] anch D
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