Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil.
Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885])
(Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XCVII-CI
Reaktionen auf den Selbstmord; das Grab
Dahin gehört auch das Urteil Theodor Körners, in dessen Vaterhause man freilich Ursache
haben mochte, Kleist zu zürnen. Der alte Körner teilte in einer bisher
stets unterdrückten Stelle am 13. Dezember 1811 dem Sohne nach Wien
Kleists Tod mit: Von Kleists Tode schreibt die Chodowiecka an die Piatoli,
Kleist habe eigentlich nicht die Vogel, sondern eine andere Frau (auch nicht die Hendel)
geliebt. Dieser habe er die Erschießensparthie proponirt, aber kein Gehör gefunden. Die
Vogel sei erst nachher zu diesem Tanz aufgefordert worden und da sie, ohnedem wegen eines
Krebsschadens habe sterben wollen, so sei sie geneigt dazu gewesen.\1\ Hierauf antwortete Theodor mit der
folgenden unverständigen Bemerkung\2\:
Kleists Ende hat mich nicht sehr gewundert, wie sich aber eine Frau aus Liebe zu ihm
hat erschießen können, das sehe ich noch nicht ein. In der ganzen Geschichte
erkenne ich das überspannte, flache Wesen der Preußen deutlich ausgedrückt. Es
<XCVIII:> giebt Fälle, wo jeder Trost niederträchtig, und die Verzweiflung Pflicht
ist, das wird niemand läugnen, nur muß es keine Verzweiflung an sich, sondern an das
Leben sein. Manches Leben kann nur der Selbstmord würdig enden, und für solch einen hab
ich Respect. Das andre sind Kindereyen, wozu weder Muth noch Kraft gehört. Ebenso
unerfreulich schrieb Adam Müller über das schreckliche Ende unsers Kleist an
Fr. Schulz, den Mitarbeiter der Abendblätter, indem er dagegen
protestierte, daß beide Verstorbene das Andenken an ihn und seine Frau in das
frevelhafte Spiel ihrer letzten Gedanken verwickelt haben. Das Denkmal, welches
Müller seinem Freunde setzen wollte und wozu er 1812 Nachrichten sammelte, ist nicht
zustande gekommen, doch hat er im Wiener Sammler im Dezember 1811 über das
Ende seines Freundes geschrieben. In einem seiner Briefe spricht er davon, daß unter
allen europäischen Blättern, die sich mit dieser Katastrophe befaßt, die Times
den ruhigsten und besten Originalartikel gebracht habe. Die gerade 1811 gegründete
Frankfurter Oderzeitung verschwieg den Fall aus Rücksicht auf die Familie,
während die Zeitung für die elegante Welt allerlei Klatsch erzählte und sogar dem
Dichter der Wahlverwandtschaften Kleists Tod zur Last legte.\1\ Sehr schön äußerte sich Wilhelmine
v. Zenge in einem Briefe zu Handen Tiecks: Wenn man sein schreckliches Ende
entschuldigen will, muß man sein unglückliches Gemüth genau gekannt haben
Wunderbare Fügungen des Himmels haben mich von Kleist getrennt; doch wird er meinem
Herzen immer werth bleiben. Mein größter Wunsch war es, daß er an der Seite eines
anderen weiblichen Wesens glücklich werden möchte: doch wurde auch dieser Wunsch nicht
erfüllt. Von den letzten Jahren seines Lebens weiß ich wenig. Einmal hat er uns in
Leipzig besucht. Er soll die letzte Zeit körperlich und geistig krank gewesen sein, sogar
mit Mangel gekämpft haben, was ich erst nach seinem Tode erfuhr.\2\ Fouqué endlich, den Peguilhen bei
seinem geplanten Nekrolog zu Rate zog, schrieb über des <XCIX:> herrlichen
Menschen Hinschied: Ich bin innig erschüttert von der furchtbar sichern
Kraft, mit welcher unser Heinrich einem Leben Fahrewohl sagen konnte, in welchem noch so
viele Kränze auf ihn warteten, so viele liebevolle Herzen ihm entgegenschlugen. Gebieten
Sie über mich, wenn ich im Stande bin, Ihnen auf irgend eine Weise für das Andenken des
edlen Gefallenen behülflich zu sein. Auch an seinen Freund A. G. Eberhard
hat er darüber eingehend geschrieben und ein schönes Gedicht auf Kleists Tod
veröffentlicht.\1\
Ulrike erfuhr die
Schreckensthat auf einer Fahrt von Frankfurt a. O. nach Gulben zu ihren Verwandten
von Schönfeldt. Als sie in Körlin übernachtete, hörte sie, wie in einem benachbarten
Zimmer zwei Fremde über den Selbstmord des Lieutenants von Kleist plauderten; von bösen
Ahnungen erfaßt, fragte sie atemlos, von welchem Kleist die Rede sei, und fiel, als sie
die Wahrheit erfuhr, in Ohnmacht. In Gulben wurde ihr der letzte Brief des Bruders
eingehändigt. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Geschwister kurz zuvor uneins
geworden, so wird man Ulrikens Schmerz begreifen. Jahrzehnte lang bis an ihr eigenes Ende
(am 5. Febr. 1849) betrauerte sie den innig Geliebten. In ihrem Vaterhaus blieb sie,
unvermählt, der Erziehung junger Mädchen sich widmend, bis an ihren Tod. Auch ihren
nächsten Freunden hat sie zu keiner Zeit von den Schicksalen des Bruders erzählen
wollen; und so oft selbst ihr vertrautester Berater diese Saite anschlug, unterbrach sie
ihn mit der Bitte: Sprechen wir nicht von ihm; es thut meinem Herzen weh. In ihrer
Gegenwart durfte auch Goethes Namen nicht ausgesprochen werden; sie zürnte ihm, weil er,
wie sie meinte, ihrem Bruder, dem er so leicht hätte helfen können, jede Anerkennung
versagt habe. Auch auf Theodor Körner war sie sehr übel zu sprechen und immer
protestierte sie bei ihren Verwandten gegen die Aufführungen von Toni, der
unbefugten Dramatisierung von Kleists Erzählung: Die Verlobung in
St. Domingo. In ihren letzten Jahren verwirrte sich ihr Geist. Sie liegt auf dem
Frankfurter Kirchhofe begraben: auf dem eisernen Kreuze stehen Namen, sowie Geburts- und
Sterbetag verzeichnet. Das nach ihrem Tode verödete Elternhaus kam in fremde Hand.\2\ Jahrzehnte lang war es, um einen Stock
erhöht und nach rückwärts verlängert, der Gasthof zum Prinzen von Preußen. Eine
Gedenktafel bezeichnet es als Heinrich von Kleists Geburtshaus. Heute hat sich in den
Zimmern, wo unser Dichter geboren <C:> und aufgewachsen, und im Hofe, wo er mit
seinen Geschwistern und seiner Braut Wilhelmine geweilt, die Postbehörde niedergelassen\1\, die schon früher das Zengesche Nachbarhaus
bezogen hatte. Der Grabhügel, darunter der Dichter Ruhe gefunden, war jahrzehntelang
verschollen. Der Sand drohte die beiden kleinen Hügel ganz zu verwehen. Eduard von Bülow
hatte in den vierziger Jahren Mühe, die Gräber zu finden. Nach alter märkischer
Landessitte waren sie mit Föhrenzweigen bedeckt, zu denen jeder Vorübergehende einen
neuen legte. Bülow rettete die Stätte, auf der sich zwischen den zwei Gräbern eine
Eiche erhebt, vor dem völligen Untergang. Er wies in den Zeitungen auf diese unwürdige
Vernachlässigung hin, und eine von Tieck und ihm angeregte Sammlung ermöglichte 1848 die
Setzung eines unbehauenen Granitwürfels mit Kleists Namen, Geburts- und Todestag. Der
Besitzer des Grundstückes, zumal aber die Tochter des Wirts Stimming nahmen jetzt die
Gräber in ihre Obhut und bepflanzten sie. Später geriet die Gruft in neuen Verfall, und
1861 scheint sie in einem höchst unwürdigen Zustande gewesen zu sein. Es wurde eine neue
Sammlung angeregt, zu der Bogumil Dawison den Ertrag einer im Hotel de Saxe zu Dresden von
ihm veranstalteten Vorlesung des Prinzen von Homburg, welcher auch der
Kronprinz und die Kronprinzessin von Sachsen (König Albert) beiwohnten, im Betrag von
hundert Thalern beisteuerte. Von dieser Summe wurden die Kosten der eisernen Umfriedung
und eines zweiten Grabsteines aus weißem Marmor bestritten. Die Inschrift des letzteren
lautet:
Heinrich von Kleist.
geb. 10. October 1776.
gest. 21. November 1811.
Er lebte, sang und litt
In trüber, schwerer Zeit,
Er suchte hier den Tod
Und fand Unsterblichkeit.
Matth. 6. V. 12.
Das Terrain, auf dem das Grab sich befindet, ist jetzt Eigentum des Prinzen Friedrich Karl
und nicht mehr so einsam wie früher: die Eisenbahn fährt dicht daran vorbei, und
zahlreiche Villen reicher Berliner Banquiers und Künstler haben sich in der Nähe
angesiedelt. Das Wirtshaus von Stimming ist die heutige Villa Alsen. Neuerdings hat die
von Kleistsche Familienstiftung sich endlich des schon wieder arg verwahr- <CI:>
losten Grabes angenommen und will den Unterhalt auch für die Zukunft übernehmen. Der
Verein für die Geschichte Berlins wird Kleists Berliner Wohnungen zum
goldenen Stern an der Spandauerstraße und seine letzte Behausung in der
Mauerstraße Nr. 53 ermitteln und in seiner pietätvollen Weise mit Gedenktafeln
auszeichnen. Dann mag sich auch als eine späte Sünde dessen, was ihm seine Zeitgenossen
schuldig blieben, in der Hauptstadt des neuerstandenen Reiches neben Lessing, Goethe,
Schiller als der vierte Große unserer klassischen Poesie ein Denkmal von Preußens
größtem Dichter erheben.
\1\ Hs. im Körner-Museum zu Dresden. Die
Chodowiecka ist die Witwe des Kupferstechers und ihre Freundin die Witwe des Marchese
Piattoli, der in der polnischen Revolution verwickelt und später der Freund der Herzogin
Dorothea von Kurland war. Er verheiratete sich 1806 mit der Hofdame der Herzogin,
Fräulein von Vietinghoff, und starb 1809.
\2\ Vgl. Briefe, Anhang 4
\1\ In der Nummer vom 7. Dez. 1811
fragt ein Anonymus, ob es wahr sei, daß beide kurz vor ihrem Hintritt noch die
Wahlverwandtschaften gelesen haben. Es sind Zeichen der Zeit. Aber
Vorwitz und böser Wille könnte leicht die Zeiger an diesem Zifferblatte muthwillig
verrücken wollen, indem man die Lektüre eines Buches damit in Verbindung setzt, welches,
wie der Legationsrath Falk vor Kurzem in einem gediegenen Aufsatz in der Urania gezeigt
hat, weit über alles, was Schiller und andere intendirt haben, das innere Getriebe des
Schicksals, wie es sein soll, weil es sein muß, uns aufschließt und wie es ebenfalls
Herr Falk versichert, diesen Dichter Kleist mit sich selbst und seinen erhabenen
Schicksalsdichtungen in vollkommenen Einklang setzt. Und am 30. November setzt
das Blatt seinen Lesern folgendes Geschichten vor: Ein hiesiger Beamter hatte eine
hübsche junge geistreiche Frau, die aber von der Sucht, den schönen Geist zu machen,
angesteckt und hauptsächlich eine erklärte Bewunderin der neusten ästhetischen Schule
war. Ein alter Schulfreund des Mannes [Adam Müller], der oft bei ihm im Hause war,
führte auch seine Freunde dort ein, und unter anderen auch Heinrich von Kleist. Zwischen
diesem letzteren und der Frau des Beamten entstand bald ein Verhältniß, das der Mann
nicht mit gleichgültigen Augen ansehen konnte. Der Himmel weiß, welche Familienscenen
deshalb stattgefunden, genug, die Verführte entschloß sich, mit ihrem Verführer
davonzugehen, nicht um an einem anderen Orte mit ihm zu leben, vielleicht weil beide
überzeugt waren, daß es ihnen dazu an den nöthigen Mitteln fehle, sondern um gemeinsam
zu sterben.
\2\ Biedermann S. 239.
\1\ Die Briefe sind im Anhang zu Kleists
Briefen abgedruckt. Das Gedicht stand in den Erholungen, Ein thüringisches
Unterhaltungsblatt für Gebildete 1812, Nr. 1 und nochmals abgedruckt in
Hoffmann v. Fallerslebens Findlingen, 252f. Vgl. auch Fouqués
Lebensgeschichte 293, wo der streng kirchliche Dichter sich über des Freundes Selbstmord
äußert.
\2\ Ihr Nachlaß ging in den Besitz ihrer
Universalerbin, Frau von Schönfeldt, geb. von Pannwitz, über, einer rechten Nichte
Heinrichs, welche nebst vielen anderen Nichten von Ulrike erzogen worden war und dieselbe
in ihrer letzten Krankheit treulich gepflegt hatte. So kamen auch die später von
Koberstein veröffentlichten Briefe in ihren Besitz. Mit diesem war sie damals in langer,
eingehender Korrespondenz und hat im Sinne ihrer Tante selbst genau bestimmt, was
gedruckt, was verschwiegen werden sollte. In wessen Besitz die Briefe, die vielleicht
noch manchen Aufschluß enthalten, jetzt sind, haben wir nicht erfahren können.
\1\ Unmittelbar neben Kleists Geburtshaus zur
Rechten im Superintendenturgebäude ist heute eine zweite Gedenktafel angebracht mit der
Inschrift: Wilhelm und Alexander von Humboldt, 1787 bis 1788. So nahe sind
sich Kleist und die Humboldts gewesen: die einen fröhliche, junge Studenten, dem Herrn
Oberprediger an der Marienkirche zur Pflege des Leibes und Geistes übergeben, der andere
ein zehnjähriger Knabe, der eben, nach des Vaters Tode, aus dem elterlichen Hause
scheiden mußte. Auch später, z. B. in Paris 1801, begegneten sie sich mehrfach auf ihrem
Lebenswege und mochten gemeinsame Erinnerungen an Frankfurt und die Universität
austauschen.
|