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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 90-93

Heinrich Zschokke und andere Freunde Kleists in der Schweiz


Ich ergänze die Angaben Steigs durch die folgenden kurzen Notizen in Zschokkes Miszellen für die neueste Weltkunde. Zschokke selbst hat nicht mehr das Wort ergriffen. Hingegen finden sich von unbekannter Seite die folgenden Bemerkungen über Kleist in einer Besprechung der Büchererscheinungen zur Michaelismesse 1810 (Nr. 80, den 6. Okt.).
„Interessanter als die Poesie dieser Messe die Prosaiker. Goethes Wanderjahre seines Wilhelm Meister, H. von Kleists Erzählungen und Lafontaines neue Romane werden am meisten die Aufmerksamkeit der Unterhaltungssüchtigen anziehen. – – – Die dramatische Literatur leidet anhaltend den größten Mangel; stünde am Ende nicht Kotzebues fruchtbare Muse den Bühnen bei, sie würden verderben. Die Franzosen haben doch zur Not noch Aschenbrödelchen und Schwiegersöhne zu sehen; aber unsere Hagermannschen Orgelpeter, das Kleistsche Käthchen von Heilbronn, oder Jul. v. Voß’ Harlekin trösten so schlecht, wie Ifflands Übersetzungen der französischen Kleinigkeiten.“
Über Kleists Abendblätter finden sich in den Miszellen zwei kurze Notizen in den Berichten aus Berlin. Die erste ist H (?) signiert, die zweite Ar (S. Ascher).
„Nr. 89 (p. 356, d. 20. Oktober). Die Berliner Abendblätter von Heinr. von Kleist redigirt, welche seit dem 1. Oktober täglich erscheinen, enthalten mehrere vorzügliche Aufsätze, die besonders die hiesigen Theater betreffen.
Nr. 104 p. 416, d. 29. Dezember. Die seit kurzem hier erscheinenden Abendblätter, wie auch der Hausfreund, werden mit dem Ende dieses Jahres, wie es heißt, ihr Ende erreichen.“ <91:>
Seine Novelle mag Zschokke zurückgestellt haben, da er die Überlegenheit von Kleists Drama einfach und unter seinem lebhaften Eindruck die Schwächen seiner Erzählung erkannte. Erst viel später (1813), da er für seine Zeitschrift Stoff brauchte, entzog er die Novelle der Vergessenheit. Das Andenken an den Freund erneuert er nicht, die Erinnerung war nach dem Tode Kleists mit den begleitenden Umständen schmerzhaft. Erst allmählich tritt wieder die Persönlichkeit lichter in die Erscheinung, und mit der steigenden Wertschätzung seiner Dichterwerke weilte er häufiger und immer liebevoller bei Kleists Andenken.
Eine andersartige Anregung, die auf den Verkehr mit Zschokke zurückzuführen ist, finde ich in Kleists Erziehungsplänen resp. -vorschlägen. Kleist vermißte an der modernen Erziehung, wie Steig resümierend zusammenfaßt, die nationale, die das Vaterland befreiende Tat, die der modernen Erziehungsmethode nicht innewohne, und die sie auch nicht der Erziehung geben könne. Hier mögen Kleist die Erziehungstendenzen Zschokkes vorgeschwebt haben, die dieser in lebhaften Diskussionen gegen Pestalozzi, den er später auch öffentlich angriff, im Beisein Kleists vertreten haben dürfte. Eine Erziehungsanstalt im Sinne Kleists war nämlich diejenige, welche Zschokke von 1796 bis 1798 in Reichenau bei Chur geleitet hatte. Hier war in der Tat, als die Anstalt unter seiner Leitung so beträchtlich gewachsen war, daß der Begriff der Familie nicht mehr Anwendung finden konnte, die verwandteste Idee, die Liebe zum Vaterlande, das beseelende Element, der Grundzug aller Erziehungsbestrebungen. Reichenau war im wahrhaft antiken Sinne die Bildungsschule für das Vaterland und die Republik. Kleist hat natürlich die Anstalt selbst nicht mehr kennen gelernt, welche beim Eindringen der Franzosen aufgelöst wurde, aber die Ideen Zschokkes hat Kleist sich zu eigen gemacht und bei verschiedenen Gelegenheiten öffentlich vertreten. <92:>
Die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß Kleist bei der wiederholt auftretenden Idee zu periodischen Zeitschriften, welche in schwerer Zeit auf die breiten Schichten des Volkes wirken, sie sittlich heben und vaterländisch begeistern sollten, das Beispiel Zschokkes vorgeschwebt hat. Zschokke brachte bekanntlich ebenfalls ein Volksblatt, den „Schweizerboten“, heraus, welches seit 1804 regelmäßig erschien, und welches Jahrzehnte hindurch eine bedeutende Einwirkung auf die Zustände des Landes ausübte; es war ganz volksgemäß gehalten mit Erzählungen, Sprüchen, Schwänken, Anekdoten usw. Das Blatt erschien regelmäßig erst seit 1804, aber schon im Jahre 1799 hatte Zschokke mit der Herausgabe des „Schweizerboten“ begonnen, der damals unter der Ungunst der Verhältnisse nach wenigen Monaten wieder einging. Die Idee, das Blatt von neuem ins Leben zu rufen, mag unter den Freunden besprochen worden sein und Kleist manche Anregung gegeben haben.
Es ist auffallend, daß über die Entstehung des Amphitryo, über die Frage, wann und wo Kleist die Anregung erhielt, Molières Lustspiel zu bearbeiten, alle möglichen Vermutungen aufgestellt worden sind, die Parallele zwischen Kleist und Zschokke aber bisher übersehen wurde. Zschokke hat nämlich im Jahre 1805 bei Heinrich Geßner in Zürich „Molières Lustspiele und Possen für die deutsche Bühne“ herausgegeben; der Amphitryo befindet sich nicht unter den Bearbeitungen. Daß Zschokke bereits im Jahre 1802 mit der umfangreichen Arbeit beschäftigt war, ist sicher, und daß er zu dieser Zeit bereits die Herausgabe mit Geßner verabredet, ist höchst wahrscheinlich. Nach alledem scheint es doch sicher, obgleich wir einen dokumentarischen Beweis nicht besitzen, daß Zschokke sich mit den Freunden über seine Arbeit unterhalten, und daß er bei Kleist die Idee angeregt hat, ebenfalls einen Molièreschen Stoff zu bearbeiten.
Wir sehen aus alledem, daß Kleist in der Schweiz vielseitige und entscheidende Eindrücke erhalten hat. Im <93:> Verkehr mit älteren, charaktervollen Männern der Tat, die sich aufopferungsvoll dem Wohle des Volkes gewidmet hatten, kamen die Keime zur Entwicklung, die in Kleist steckten, entstand der Haß gegen den Unterdrücker Napoleon, drängte sich ihm die Überzeugung auf, daß die Wiedergeburt seines Vaterlandes nur aus einer Erstarkung des Volkswillens hervorgehen könne, daß des Volkes Bedürfnis aus das seinige sei, daß des Volkes Einsicht Hand in Hand gehen müsse mit seiner Sittlichkeit. Nach diesem Prinzip hat Kleist gehandelt, als die Not des Staates es erforderte. Daneben können wir nicht übersehen, daß auch der Dichter in Kleist zahlreiche Anregungen auf Schweizer Boden erhielt. Einige auffällige Parallelen in Schriften Zschokkes und Kleists, ohne sie in ihrem Wesen vergleichen zu wollen, habe ich im vorhergehenden besprochen.


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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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