BKA-Brandenburger Kleist-Ausgabe Start Übersicht Suchen Kontakt Andere interessante Websites Institut für Textkritik e. V.

[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

[ ]


R

Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 85-90

Heinrich Zschokke und andere Freunde Kleists in der Schweiz


Zweifellos müssen die Freunde, welche Zschokke begleiteten, in dem sehr gastfreundlichen Hause Meyers mitlogiert und hier sich aufgehalten haben. Kleist muß auf diese Weise den Senator J. R. Meyer kennen gelernt haben, der sich gewöhnlich „Vater“ schrieb zum Unterschiede von seinem gleichnamigen Sohne; allein in der Folge wird er insgemein im Sinne einer Ehrenauszeichnung „Vater Meyer“ genannt. Er war in der Tat ein ganzer Mann. Ohne eigentliche Schulbildung erhalten zu haben, schwang er sich aus dürftigen Verhältnissen zur Stellung eines reichen Fabrikanten empor und machte von seinem Reichtum den edelsten Gebrauch. Er war Philanthrop und Patriot im schönsten Sinne des Wortes. Als im Herbst 1798 Nidwalden von den Franzosen zerstört worden war, sandte er große Wagenladungen von Betten, Viktualien usw. dorthin und übernahm eine Anzahl von Waisenkindern zur Erziehung. Ferner ließ er auf eigene Kosten die Schweiz vermessen und den großen Meyerschen Atlas (den Vorläufer des Dufourschen) herstellen; ebenso ließ er die sämtlichen Schweizertrachten malen (diese Sammlung von Ölgemälden befindet sich im Bundespalast in Bern); er begann auch den Weinbau in der Gegend von Aarau, und so noch manches andere. Als Mitglied des helvetischen Senats hatte er in Aarau und Luzern 1798 und 1799 Zschokke kennengelernt, welchem er treue Freundschaft bis zu seinem Tode 1813 bewahrte. Im Leben Zschokkes spielt er auch insofern eine große Rolle, als er mit Eifer die Idee eines Volksblattes vertrat, und er es war, der Zschokke zur neuen Herausgabe des bereits aufgegebenen „Schweizerboten“ veranlaßte.
Über andere Personen, mit denen Kleist während seines Schweizer Aufenthaltes intimer verkehrte, sind wir weniger genau unterrichtet. Des Dr. Karl Wyttenbach haben wir oben <86:> (S. 77) Erwähnung getan. Der in dem Briefe an Zschokke aus Thun erwähnte Mulinen, den Kleist mit seinem Hofmeister angenehme Männer nennt, war der spätere Schultheiß der Stadt und Republik Bern, bekannt auch als Geschichtsforscher und Sammler von vaterländischen Antiquitäten.
Zschokke, Pestalozzi, Meyer Vater, das sind einige von den Persönlichkeiten, von denen wir noch heut nachweisen können, daß Kleist mit ihnen im Schweizerlande zusammentraf. Und dieser Nachweis scheint mir wichtiger, als das bis in allen Einzelheiten verfolgte Zusammensein mit den jungen Literaten Wieland und Geßner. Denn der 24jährige Kleist lernte hier vielleicht zum ersten Male Männer der Tat kennen, die nichts romantisches an sich hatten, Männer, über welche Jahre schwerer Verhängnisse und reicher Lebenserfahrungen dahingegangen waren, Charaktere, die mit der Geistesreife des vollendeten Mannes die Gemütswärme des Jünglings verbanden. Er sah diese Männer während der schwersten Wirrnisse dem Volke selbstlos und aufopfernd zu Hilfe eilen, und ihre Tatkraft mußte auf ihn einen doppelt tiefen Eindruck machen, der mit Bedauern einst seine Kameraden ihre Zeit hatte verschleudern sehen, der sich bisher in einem Kreise von Romantikern bewegt hatte, die in phantastischer Überschwenglichkeit ihre Gefühle in Duft und Klang aufgehen ließen. Hier in der Schweiz bot sich Kleist der beste Einblick in Verhältnisse, wie er sie in ganz ähnlicher Weise wenige Jahre später in seiner Heimat durchmachen sollte, und die Männer, welche er hier kennen lernte, konnten ihm vorbildlich werden für sein eigenes Handeln und Verhalten. So schwer es fällt, Kleist als Dichter zu registrieren, ebenso schwer ist es, Kleist als Menschen nach seiner politischen und sozialen Gesinnung einer der Parteien einzuordnen, die wir heut unter veränderten Verhältnissen unterscheiden. Man hat aus manchen Stellen seiner Dramen eine demokratische, revolutionäre Gesinnung herausgelesen, man hat im Gegensatz dazu Kleist als Herausgeber eines auf bestimmte Kreise gestützten Blattes zum Ver- <87:> treter der konservativen Anschauungen des preußischen Junkertums gestempelt. Das erste wie das letzte erscheint mit nicht zutreffend. Belege aus Dichterwerken sind nach dieser Hinsicht keine Beweise, und die Abendblätter haben, wie ich an mehreren Stellen zu zeigen Gelegenheit haben werde, überhaupt kein festes Programm. Solange wir den versprochenen Neudruck nicht haben und wir auf einzelne verstreute Blätter angewiesen sind\1\, ist es schwer, ein bestimmtes Urteil abzugeben; aber so viel ist sicher, daß wir Kleist nicht für die ganze Haltung des Blattes, sondern nur für das, was er wirklich geschrieben hat, verantwortlich machen können. Überblicken wir die ganze Entwicklung Kleists, so beobachten wir an ihm einen ausgesprochen antiaristokratischen Zug. Hermann Grimm hat in einer kurzen Kleiststudie\2\ sehr treffend hervorgehoben, daß Kleist seinen Schicksalen nach jene mit der Welt nicht im Gleichgewicht stehenden Naturen repräsentiert, „die sich durch Talent und Neigung zu einer anderen Laufbahn gedrungen fühlen, als ihre Geburt ihnen vorschreibt; Geister, die in Schranken aufgewachsen sind, welche zu durchbrechen ihre edelsten Kräfte vorweg in Anspruch nimmt.“ Während aber bei anderen Dichtern, wie Alfieri, Platen, Byron der dichterische Beruf allein den Gegensatz zu ihrer Kaste bedingt, so steckt in Kleist von Jugend auf, ich sage nicht ein demokratischer, so doch antiaristokratischer Zug. Das kommt zum Ausdruck darin, daß er schon, bevor er seinen Dichterberuf entdeckt, den durch die Geburtsstellung vorgeschriebenen Beruf aufgibt, das zeigt sich in den Jugendbriefen an Ulrike an verschiedenen Stellen, <88:> das dokumentiert sich in dem Spott über die Ordenseitelkeit der Eickstedter (an Wilhelmine den 21. August 1800) u. a. Genau so wie Pestalozzi in letzter Reihe der Unwille gegen die aristokratischen Stände zum Beruf eines Schulmannes bestimmte, wie dieser Unwille bei ihm nicht ein politischer Stachel war, der ihn trieb, nicht ein Gelüst, die politischen oder sozialen Formen der Welt umzugestalten, so war auch Kleist kein ausgesprochener Politiker, kein Demokrat, oder Sozialreformer in unserm Sinne, aber er war durchdrungen davon, daß die Wiedergeburt des Staates nur von dem Volke selbst ausgehen könne, er wünscht sich eine Stimme von Erz, um vom Harz herab die Volkspsyche zu erregen und aufzuwühlen, er sucht in Wort und Schrift auf die Masse des Volkes zu wirken. Kleist wird ein rühriges Mitglied jener ersten geheimen Verbindungen, welche eine allgemeine Volkserhebung beabsichtigen, er verhält sich ablehnend gegen die Bestrebungen des Tugendbundes, welcher sich auf andere Kreise der Bevölkerung stützt, in Österreich läßt seine nahe Verbindung mit maßgebenden Persönlichkeiten (Hormayr, Buol) auf eine Beteiligung an der Volkserhebung der Tiroler schließen, seine Germania, seine Abendblätter beabsichtigen eine Beeinflussung des Volkes nicht in romantischem, sondern im ausgesprochen politischen Sinne. Die Wege, die Kleist ging, sind dieselben, welche seine Schweizer Freunde unter ähnlichen Bedingungen eingeschlagen hatten, und es ist sicher, daß die politisch-sozialen Keime, die in ihm steckten, in der Schweiz den besten Nährboden fanden. Es ist auch sicherlich kein Zufall, daß der erste Ausfall gegen Napoleon, den „Aller-Welts-Consul“, in sehr schroffen Worten in einem Schweizer Briefe an Ulrike (19. Febr. 1802) zum Ausdruck kommt. Die übliche Darstellung, daß Kleists nationale Gesinnung wesentlich beeinflußt wurde durch Adam Müller, läßt sich leicht widerlegen (s. u.), den bedeutendsten Anstoß erhielt sie in dem Schweizer Milieu, wie ich zu schildern versucht habe. <89:>
Daß Kleist in seinen dichterischen Tendenzen und in seiner dichterischen Entwicklung weder von Zschokke noch von den anderen Literaten, mit welchen er hier verkehrte, besonders beeinflußt werden konnte, muß Erich Schmidt ohne weiteres zugegeben werden. Im Gegenteil, sein Jugenddrama ist hier arg verstümmelt worden, und wenn sich Kleist in späteren Jahren bitter darüber beklagt, daß er sich in seinen Intentionen viel zu sehr von anderen bestimmen ließ, so dachte er sicher dabei auch an seine Schroffensteiner. Aber auf der anderen Seite erscheint es mir doch zweifellos, daß Kleist im Verkehr mit Zschokke und seinen Freunden zahlreiche äußere Anregungen erhalten hat.
Bekanntlich ging der „zerbrochene Krug“ aus einem Wettbewerb der Freunde hervor. Zschokke schrieb bei dieser Gelegenheit die gleichnamige Novelle, die im Winter 1802 abgefaßt, erst 11 Jahre später in den „Erheiterungen“ veröffentlicht wurde, aber ohne Hinweis auf ihre Entstehung. Weit später erst, als er im Jahre 1825 seine „ausgewählten Schriften“ herausgab, setzte er ihnen die „Lebensgeschichtlichen Erinnerungen“ voran, in welchen die Bekanntschaft mit Kleist zum ersten Male Erwähnung findet und schrieb das kurze Vorwort zur Novelle. Endlich in der „Selbstschau“ 1842 behandelte er dieses Thema ausführlicher. Das Verhalten Zschokkes könnte den Verdacht erwecken, daß eine Entfremdung zwischen ihm und Kleist erfolgte, wenn wir nicht aus Steigs Untersuchungen wüßten, daß bei passender Gelegenheit Kleist mit Zschokke in Verbindung getreten ist. Ich glaube auf Grund des vorliegenden Materials das Verhältnis der beiden Freunde nach ihrer Trennung in der folgenden Weise deuten zu müssen. Für Kleist begann nach dem Abschied ein unstetes Leben, Zschokke entwickelte eine sehr lebhafte literarische Tätigkeit, und, was mehr ins Gewicht fällt, er machte die Bekanntschaft der benachbarten Pfarrerstochter in Kirchberg, die er später heiratete. – Die Freunde kamen auseinander, und erst als Kleist in Dresden den Phöbus herausgab, wandte er    sich von neuem <90:> an Zschokke, dessen Teilnahme für sein Kunstblatt er zu erwecken suchte. Aus den Untersuchungen Steigs (Neue Kunde S. 17ff.) wissen wir, daß Zschokke mit Interesse die Entwicklung Kleists verfolgte, und daß er im Jahre 1808 neben einer allgemeinen Würdigung Kleists eine kritische Besprechung der Penthesilea brachte.

\1\ Die Angaben über die in der Kgl. Bibliothek Berlin vorhandenen Nummern der Abendblätter sind nicht richtig. Auch der sonst zuverlässige H. H. Houben (Bibliogr. Repertorium) zitiert unvollständig. Es finden sich nämlich in der Handschriftenabteilung der Bibliothek noch die folgenden Nummern im Original: Blatt 9, 10, 11, 12, 14, 18, 20, 21, 23, 27, 66, 69, 71.
\2\ Sonntagsbeilage der Voss. Zeitung 1862 Nr. 46. Heinrich v. Kleists Grabstätte.


[ R ]

[ ]

Copyright © 2000 by Institut für Textkritik e. V., Heidelberg
Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
[ Webdesign: RR 2000 ]