Uwe Jochum
Bibliothekskatastrophe

Als in Weimar die Herzog-Anna-Amalia-Bibliothek brannte, ging ein entsetzter Schrei durch die Feuilletons. Von einem »unersetzlichen Verlust« war die Rede und von einer »nationalen Kulturkatastrophe«, und flugs konstituierten sich, mit ministerieller Unterstützung, helfende Gremien, die mit Geld die vom Feuer geschlagene Wunde heilen sollen.

Nun wird niemand die Bücherverluste, die in Weimar zu beklagen sind, auf die leichte Schulter nehmen wollen. Aber man wird doch fragen müssen, wie viel an der Rede vom »unersetzlichen Verlust« und der »Katastrophe« eigentlich daran ist. Tatsächlich zeigt ein schneller Blick in die Bibliotheksgeschichte, daß sämtliche bisherigen Bibliothekskatastrophen für die nationalen Kulturhaushalte stets verschmerzbar waren, weil der Großteil der vernichteten Bücher über den Antiquariatsmarkt wiederbeschafft werden konnte und das Wenige, was wirklich unersetzbar und nicht wiederzubeschaffen war, sich entweder rekonstruieren ließ oder als unmaßgeblich herausstellte.

Das war so, als im Krieg von 1870/71 in Straßburg die Universitätsbibliothek verbrannte und dabei bedeutende Dokumente der Gutenberg-Forschung zerstört wurden; es war so, als im Ersten und Zweiten Weltkrieg die Bibliothek im belgischen Löwen in Flammen aufging; und es war so, als im Zweiten Weltkrieg in Deutschland etwa ein Drittel der Bestände der wissenschaftlichen Bibliotheken vernichtet wurde. Die Gutenberg-Forschung brach dadurch nicht zusammen, die Bibliothek von Löwen wurde mit internationalen Spenden neu und glänzender als zuvor aufgebaut, und die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken füllten in den 1950er und 1960er Jahren geduldig die vom Krieg aufgerissenen Lücken. Nicht viel anders wird es in Weimar sein.

Und dennoch: Wer meint, es stünde alles zum besten mit den Bibliotheken in Deutschland, der irrt. Denn die wahre Bibliothekskatastrophe ist nicht jenes exzeptionelle Ereignis, über das als Katastrophe berichtet wird, sondern der Alltag der Bibliotheken, für den sich niemand interessiert.

Dieser Alltag zeichnet sich zunächst durch eine groteske finanzielle Unterversorgung der Bibliotheken aus, die jedem Versuch, Anschluß an international bedeutende Einrichtungen zu finden, hohn spricht. Diese Unterversorgung ist längst zu einem strukturellen Merkmal des deutschen Bibliothekswesens geworden, von den größten und leistungsfähigsten bis zu den kleinsten und ehrgeizigsten Bibliotheken. Wer daher die Bibliotheken als wichtigste Infrastruktureinrichtungen für die Wissenschaft auf jenes internationale Spitzenniveau bringen will, von dem überall die Rede ist, der wird zunächst die unbequeme Tatsache zu akzeptieren haben, daß dieses Spitzenniveau nur für viel Geld zu haben ist. So muß man etwa wissen, daß das Bibliothekssystem der Harvard University mit einem jährlichen Anschaffungsetat von 26,5 Mio. Dollar ausgestattet ist und über 1300 Personalstellen verfügt, während die Berliner Staatsbibliothek als wichtigste deutsche Bibliothek mit einem Etat von knapp 9 Mio. Euro und 815 Personalstellen auskommen muß. Damit könnte Berlin gerade einmal im Mittelfeld der amerikanischen Universitätsbibliotheken mitspielen, in einem Feld, das im Ranking der die Plätze 40 bis 50 umfaßt. Abseits der deutschen Hauptstadt sieht es dann rasch noch viel düsterer aus: engagierte Neugründungen wie Bielefeld oder geschichtsträchtige Häuser wie Heidelberg fänden sich jenseits des mit Platz 113 endenden Rankings der amerikanischen Universitätsbibliotheken wieder.

Die Strangulierung der regulären Bibliotheksetats ist jedoch nur die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist die Digitalisierung, von Öffentlichkeit und Politik zumeist als Garant einer allfälligen bibliothekarischen Modernisierung betrachtet. Längst jedoch ist ebendiese Digitalisierung zu einem Problem geworden, das die Funktion der Bibliotheken von innen heraus aushöhlt. Die Unsummen nämlich, die die Digitalisierung verschlingt, werden in den Landes- , Universitäts- und Bibliothekshaushalten in aller Regel durch Umschichtung zulasten der konventionellen Medien, also der Bücher und Zeitschriften aus Papier, aufgebracht. Diese Umschichtung hat man der interessierten Öffentlichkeit mit zwei Argumenten schmackhaft zu machen versucht.

Erstens sei die Digitalisierung geeignet, die Zeitschriftenkrise der Bibliotheken zu lösen, die dadurch zustande komme, daß einige wenige Verlage in bestimmten Wissenschaftssektoren über ein Quasimonopol verfügten, das sie in die Lage versetze, für die von ihnen publizierten Zeitschriften jeden beliebigen Preis durchzusetzen. Die Bibliotheken könnten den Preisdruck nur dadurch auffangen, daß sie Papierzeitschriften anderer Verlage abbestellten, wodurch deren Zeitschriften sich verteuerten und diese Verteuerung eine neue Abbestellaktion nötig mache, mit der Folge einer abermaligen Verteuerung der Zeitschriften für die verbliebenen Abonnenten und einer abermaligen Abbestellaktion – usw. ad infinitum. Angesichts dieser Spirale klingt der Wechsel vom Papier zum Digitalen wie das Zerhauen des gordischen Knotens: jenseits des schnöden Marktes könnte man im Internet neue kostengünstigere Publikationsstrukturen aufbauen. Nur: Alle verfügbaren Analysen zeigen eines ganz gewiß: die Digitalisierung kommt die Bibliotheken und damit die Steuerzahler insgesamt nicht billiger zu stehen, sondern teurer.

Das liegt natürlich nicht daran, daß die Kosten für die digitalen Speichermedien steigen – diese fallen vielmehr –, sondern daran, daß die Kosten für die langfristige Vorhaltung der Daten über mehrere Generationen von Hard- und Software hinweg immens steigen. Jeder weiß das aus eigener Erfahrung: Daten, die gestern noch lesbar waren, sind es nach einem Systemwechsel plötzlich nicht mehr; und Daten, die heute produziert werden, werden in einigen Jahren Probleme bereiten. Das mag für den Privatmenschen zwar ärgerlich, aber verschmerzbar sein; für Bibliotheken mit ihren ungeheuren Datenbeständen ist es eine Katastrophe in Permanenz, gegen die immer wieder nur ein Mittel hilft: viel Geld, um den digitalen Maschinenpark am Laufen zu halten und das sachkundige Personal zu bezahlen, das diesen Maschinenpark pflegt und die Datenbestände in regelmäßigen Abständen auf neue Hard- und Software überträgt. Daß diese Übertragungen störungsfrei geschehen, ist jedesmal eine offene Wette – mit dem Resultat kostenintensiver Nachbearbeitungen, wenn es zu Inkonsistenzen oder gar Beschädigungen und Verlusten der Daten gekommen ist.

Zweitens aber wird behauptet, die Umschichtung in den Bibliotheksetats zugunsten der digitalen Medien sei nichts weiter als der Ausdruck einer gesamtkulturellen Entwicklung, die allenthalben auf die Digitalisierung zusteuere und in nicht allzuferner Zukunft den tradierten Medienmix aus Tontafeln, Papyri, Pergamenten und viel Papier durch ein einheitliches digitales Medium ersetzen werde, als dessen Vorschein wir das Internet haben. Die Vorteile dieses neuen Mediums seien beträchtlich: von überall her zu jeder Zeit auf beliebige Datenbestände zugreifen zu können – das scheint das Versprechen eines intellektuellen Glücks, das Hand in Hand geht mit dem Versprechen auf einen demokratischeren Zugriff auf Wissen und Informationen, die bislang in den Bibliotheken unzugänglich verborgen gewesen seien.

Nun mag es zwar richtig sein, daß Bildung und Wissenschaft längst eine weltweite Angelegenheit geworden sind, die man nur noch durch transnationale Netzwerke und E-Mail steuern kann. Aber gegen diesen Trend bleibt doch auch richtig, daß Wissenschaft und Bildung weiterhin lokale Phänomene sind. Das meint nicht nur, daß das Gedeihen von Wissenschaft und Bildung von einer Infrastruktur abhängt, die es mancherorts gibt, andernorts aber nicht. Das meint vor allem, daß Bildung und Wissenschaft auf eine Tradition angewiesen sind, die von Ort zu Ort differiert, so daß eben auch Bildung und Wissenschaft von Ort zu Ort verschieden sind: was man in Erlangen für Philosophie hält, muß man in Berlin noch lange nicht schätzen; und was die Bonner Genetiker umtreibt, läßt die Passauer Biologen unter Umständen völlig kalt.

Daß die Digitalisierung die Funktion der Bibliotheken aushöhlt, läßt sich daher sehr präzise so beschreiben: die Umschichtung der Bibliotheksetats dient der Finanzierung einer Wette auf die digitale Zukunft; zur Finanzierung der Wette ist man nicht nur gezwungen, die über Jahrhunderte gesammelten konventionellen Bestände strukturell zu vernachlässigen, sondern vor allem auch den lokalen Bezug zwischen Bibliothek und Wissenschaft zu negieren.

Wie wichtig diese lokalen Bezüge sind, zeigt ein Blick in die Vergangenheit der wissenschaftlichen Disziplinen und ihrer Bibliotheken: überall entwickelten sich die Bibliotheken als der Institution gewordene Ausdruck lokaler Bildungs- und Forschungsinteressen. Keine Bibliothek der Welt ist daher universal in dem Sinne, daß sie auch nur näherungsweise alles enthält, was je geschrieben wurde. Vielmehr ist auch noch die größte wissenschaftliche Universalbibliothek ein Zeichen des historisch gewachsenen Forschungsinteresses ihrer Hochschule, mit allen Brüchen und Abbrüchen. Ebendeshalb ist sie, mit Kant gesprochen, »die Bedingung der Möglichkeit von Tradition«: ihre Bestände dokumentieren die früher gestellten Fragen, und selbst dann, wenn die Fragen und Antworten längst vergessen sind, sind die Bücher mit ihren Fragen und Antworten immer noch da.

Man muß nur einmal in jene verstaubten Bibliotheksecken gehen, in denen man noch niemals war, um den merkwürdigen Effekt zu verstehen, daß in einer Bibliothek auch das Vergessene und bislang für abwesend Gehaltene ›da‹ ist und nur darauf wartet, wiederentdeckt zu werden. Mehr noch: Weil die Bücher in ihrer physischen Form aus Papier und Leinen in den Regalen einen festen Ort haben, kann man jederzeit feststellen, was alles man nicht weiß und was alles von dem, was man nicht weiß, vielleicht einen näheren Blick lohnte.

Anders das Internet. Es ist ein grenzenloser Raum von Daten, in dem weder ausgemacht werden kann, was er enthält, noch was er nicht enthält. Dieser Raum bietet daher auch keine Handhabe, um Vergessenes als Vergessenes lokalisieren zu können: wo die bei einer Recherche von einem Algorithmus auf den Bildschirm gespülten Daten herkommen mögen, wissen wir nicht, und wir wissen daher auch nicht, ob und wo es weitere Daten gibt, die uns noch interessieren könnten. Vielmehr ist die Frage nach dem Wo? ersetzt durch die Frage nach dem Wie? des Algorithmus, der alle Suchanfragen zu einer Funktion des momentanen Interesses macht und so etwas wie eine historische Tiefenlotung nicht mehr erlaubt.

Das alles macht nun vielleicht verständlich, warum Bibliotheken notwendigerweise einen Zug ins Monumentale haben. Dieser Zug verdankt sich nämlich nicht alleine dem einfachen Effekt des Bestandswachstums, der aus der ungebrochenen Lebendigkeit des Mediums Buch resultiert, sondern vor allem dem Effekt, daß der Bestand ein Monument und also Erinnerungszeichen ist, in dem sich das Eigene und Fremde oder Fremdgewordene miteinander verschränkt und jedem, der durch die Regale streift, signalisiert: hier sind die Fragen, die du bist.

An solchen Fragen sind die meisten Bibliothekare nicht interessiert. Sie beschäftigen sich lieber weiter mit der Digitalisierung und damit der medialen Löschung ebendieser Fragen.