Ente einer Manteloperation

Materialfetischismus versus kritische Philologie
von Roland Reuß

Klaus Wagenbach hat am 21.2.2004 in der FAZ versucht, einen Einwand an der von Peter Staengle und mir im Rahmen der historisch-kritischen Franz Kafka-Ausgabe im Stroemfeld Verlag herausgegebenen Edition von »Die Verwandlung« durch einen Beitrag zur Einbandforschung zu formulieren. Für die Kritik an philologischer Grundlagenforschung ist das ein aparter Zugang.

Der Leser sollte wissen, daß unsere im Spätsommer 2003 erschienene  Edition aus verschiedenen Teilen besteht: (a) einem 172 Seiten starken Band mit der vollständigen photographischen Reproduktion von Kafkas Manuskript, begleitet Seite für Seite von einer diplomatischen Umschrift, die die Handschrift Kafkas inklusive aller Streichungen, Ergänzungen und Modifikation in das Medium des Drucks übersetzt, sowie einer genauen Manuskriptbeschreibung; (b) dem 93 Seiten umfassenden Franz Kafka-Heft 4, das neben einer ausführlichen Erörterung der Druckgeschichte eine Dokumentation aller Selbstaussagen Kafkas zu »Die Verwandlung« und vor allem eine kritische Edition des Drucktextes mit Verzeichnung sämtlicher Varianten der zu Kafkas Lebzeiten erschienenen Ausgaben dem ersten Zeitschriftendruck in den »Weißen Blättern«, der ersten Buchauflage, ausgeliefert vom Jahreswechsel 1915/1916 an, und der zweiten Auflage 1917/1918 bietet; (c) einer CD-Rom mit einer digitalen Version unserer Ausgabe. Schließlich (d) enthält unsere in einem Schuber ausgelieferte Edition als Supplement einen Nachdruck der ersten Buchausgabe von 1915/16.

Dem Kafka-Interessierten ist damit jede denkbare Möglichkeit an die Hand gegeben, unsere editorischen Entscheidungen zu überprüfen und nachzuvollziehen, wie sich Kafkas Produktion entwickelt hat. Gegenüber früheren Editionen appelliert die Art der Darstellung an mündige Leser, denen zugetraut wird, sich selbst ein Urteil zu bilden und nicht unter der Vormundschaft eines vermeintlich allwissenden Editors zu verharren. Unsere Dokumentationen begreifen sich dabei als Momente kritischer Philologie, nicht als Handschriften- oder Materialfetischismus. Daß faksimiliert wird, hat neben der Funktion der Archivierung vor allem den Zweck, die Lokalisation und das Verständnis der Varianten zu erleichtern. Wer einmal frühere Kafka-Editionen in der Hand gehabt hat, wird den Vorzug dieser Darstellungsweise schnell begreifen.

Befremdlicherweise konzentriert sich die Attacke von Klaus Wagenbach wie die ihr am 7.2.2004 vorangegangene von Hanns Zischler auf den beiliegenden Nachdruck der Buchausgabe, nicht auf unsere Edition. Zischler bot dabei selbst sozusagen ein Reprint einer Wagenbachschen Fehlleistung, indem er für die Beurteilung unseres Nachdrucks die zweite Auflage heranzog (diese Auflage hat auf dem Innentitel einen überhaupt erst seit 1917 verwendeten Zensurstempel). Wagenbach war für seine 1961 erschienene Sonderausgabe von Kafkas »Erzählungen«, die eigentlich »die Erstausgaben (mit Ausnahme von Betrachtung) als Satzvorlage« benutzen wollte, ohne es zu merken, an die zweite Auflage der »Verwandlung« geraten und hatte diesen korrupten und von Kafka nicht autorisierten Druck gegenüber der weitgehend treu der Erstausgabe folgenden Brodschen Vorläuferversion zu profilieren versucht ein Mißgriff, der in einem heute noch lesenswerten Aufsatz von Ludwig Dietz 1963 im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft enthüllt wurde.

Nachdem die Haltlosigkeit des Vorwurfs, wir hätten die falsche Auflage von »Die Verwandlung« nachgedruckt, offen- und aktenkundig wurde, verfiel Wagenbach als ultima ratio auf ein schulmeisterndes Räsonnement gegen die Einbandgestaltung unseres Nachdrucks. Vorweg: selbst wenn unser Nachdruck von »Die Verwandlung« in Magenta eingebunden wäre was uns wahrscheinlich die Anwälte eines großen deutschen Telekommunikationsunternehmens auf den Hals gerufen hätte , bliebe er immer noch der authentische Nachdruck von »Die Verwandlung«, satzspiegel- und seiten- und zeilenidentisch.

Wollte man die Frage des Einbands ernsthaft zum Kriterium für die Authentizität eines Reprints machen, gäbe es derzeit wahrscheinlich überhaupt keinen einzigen authentischen Nachdruck von den Erstausgabennachdrucken des Inselverlags über die Reihe der Deutschen Neudrucke, die bei Lambert Schneider erschienen, das schöne Faksimile von Kafkas »Betrachtung« (S. Fischer 1994) bis hin zu Stefan Füssels staunenswertem Nachdruck der 34zeiligen Gutenberg-Bibel.

Gleichwohl bietet unser Einband ein Äußeres, das dem der Erstausgabe entspricht. Daß es nicht mit dem der Ausgabe identisch ist, auf die sich Wagenbach bezieht, ist zutreffend, aber ich wüßte nicht, daß wir uns dazu verpflichtet hätten, Stücke aus Wagenbachs Privatbibliothek vorzulegen. Mit Bezug auf die Reihe »Der jüngste Tag« zu behaupten, es gebe nur einen: den Einband, ist allerdings unrichtig. Bereits der Ankündigung des Buches (im Nachwort zu unserer Ausgabe wiedergegeben) läßt sich entnehmen, daß der Band sowohl gebunden als auch broschiert ausgeliefert wurde. Vom Einband selbst gab es mindestens drei Versionen, darunter eben auch diejenige, die unserem Nachdruck als Vorbild diente nicht nur deshalb, weil sie die schlichteste war, sondern auch, weil sie für das Gesicht der Reihe »Der jüngste Tag« bestimmend werden sollte. Wer sich über die Bandbreite der überlieferten Einbandgestaltung informieren will, dem sei der einschlägige, 1997 von Lame Duck Books (Boston) herausgebrachte Katalog der Kafka-Sammlung von Breon Mitchell ans Herz gelegt, aus dem die drei Abbildungen verschiedener Einbände der Erstausgaben von »Die Verwandlung« stammen, die hier noch einmal reproduziert werden. Jede Entscheidung für eine Variante (und gegen zwei andere gleichmögliche) ist mißlich. Aber so zu tun, als gebe es hier nur einen Weg (und wir hätten den verfehlt), ist unwahr.

Wahr ist dagegen, daß der schwarze Einband mit blauem aufgeklebtem Schild eine Weise war, in der die Erstausgabe 1916 ausgeliefert wurde und nicht erst, wie die Bildunterschrift in Wagenbachs Artikel behauptet, »die erste Nachauflage von 1918« wann genau 1916, weiß nach heutigem Kenntnisstand niemand, aber daß es sich um eine Variante der Erstausgabenausstattung handelt, ist gut belegt. Daß der Antiquar, von dem Wagenbach viel hermacht, ein restauriertes Exemplar besitzt, unterliegt keinem Zweifel; sein Exemplar ist aber wie bei Produkten eines professionellen Restaurators üblich präzise so erneuert worden, daß es dem ursprünglichen Einband seiner Erstausgabe entsprach: blauer Aufkleber auf schwarzem Karton. Und nun?

Was dann noch von den Wagenbachschen Nebelkerzen bleibt, ist wenig. Der Umbruch des Aufklebers sowie die Schrift sind analog der Erstausgabe behandelt, desgleichen der zweifache Rahmen und der Stern zwischen Autornamen und Bandtitel einerseits, Verlagsnamen und Reihentitel andererseits. Einräumen kann ich, daß man den Aufkleber etwas höher hätte montieren können, aber auch hier ist darauf hinzuweisen, daß die von uns konsultierten Erstausgaben nicht einfach einen genormten Stand des Etiketts hatten, sondern durchaus verschieden auf dem Umschlag standen, bis hin zur Schrägstellung Handarbeit eben, genau wie bei uns. Ist hier vom arithmetischen Mittel leicht abzuweichen im Ernst das Haupt- und Staatsverbrechen einer historisch-kritischen Edition als das Wagenbach es hinstellt?

Wenn wir Ottomar Starkes Umschlagszeichnung nur im Anhang zur Ausgabe dokumentieren, folgen wir dabei einer Wahrnehmung, die sich bereits bei einer oberflächlichen Lektüre von »Die Verwandlung« ergibt: Widerstand gegen das Illustrative. Löste man Kafkas Text real auf, er verlöre seine entschiedenste Pointe. Kafkas Einfluß auf die Herstellung des Umschlags reichte gerade noch so weit, die Abbildung des Insekts zu verhindern (»Es ist mir nämlich, da Starke doch tatsächlich illustriert, eingefallen, er könnte etwa das Insekt selbst zeichnen wollen. Das nicht, bitte das nicht! Ich will seinen [i.e. Starkes, nicht den des Insektes, wie Wagenbach fälschlich annimmt] Machtkreis nicht einschränken, sondern nur aus meiner natürlicherweise bessern Kenntnis der Geschichte heraus bitten. Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden.«), der Rest war Arrangement mit dem Unvermeidlichen des literarischen Marktes und seiner auch damals schon grassierenden Verbilderung. Es gibt keinen Grund, die äußerlichen und in diesem Fall unangemessenen Marketingmethoden des Kurt Wolff Verlags bis in unsere Reprintausgaben hinein zu verlängern. Selbstverständlich kann man auch hier anderer Meinung sein, aber unseren refus stracks als Unkenntnis auszulegen, das geht zu weit.

Bleibt zum Schluß der absurde ja soll man ihn so nennen? Vorwurf, wir hätten den Faksimilenachdruck »brutal dreiseitig beschnitten«. Sieht man einmal davon ab, daß ich bis heute darüber grüble, ob »brutal« hier als Adjektiv oder als Adverb gesetzt ist, verstehe ich nicht so recht, was eigentlich das Skandalöse daran sein soll, ein Buch »dreiseitig« zu beschneiden. Plädiert Wagenbach für zwei-, gar einseitige Beschneidung? Denn daß wir unseren Nachdruck überhaupt nicht beschnitten ausliefern, wird wohl kaum jemand von uns billig fordern wollen. Unsere Kafka-Edition ist nicht für die Vitrine, sondern fürs Studium, und man muß erst gar nicht so weit gehen wie die neuere französische Spekulation, die bezüglich des zugrundeliegenden Wortfelds darauf hinweist, daß erst die Beschneidung die Schneise für den Geist freilegt, um die Befremdlichkeit der Wagenbachschen Zumutung wahrzunehmen. Hätten wir »Die Verwandlung« unbeschnitten ausgeliefert, die weitaus größere Zahl von Käufern hätte uns den Faksimilenachdruck zurückgeschickt wegen vermuteten Herstellungsfehlers.

Die FAZ bringt heute (25. März 2004) einen – in mehrfacher Hinsicht sinnentstellend gekürzten – Artikel, den ich am 26. Februar 2004 an diese Zeitung geschickt hatte.

Zur Dokumentation folgt hier der volle Artikel samt Bildbelegen. Wo der Abdruck der FAZ von dem eingereichten Artikel abweicht, bzw. wo Passagen des Artikels einfach gestrichen wurden, wird der gültige Text kursiv ausgezeichnet.