Typographica

Wer sich für germanistische Edition interessiert, wird irgendwann einmal auch die Bände der von Norbert v. Hellingrath herausgegebenen Hölderlin-Ausgabe in der Hand gehabt haben. Sie erschien zwischen 1913 und 1923 in einer Gemeinschaftsproduktion der Verlage Georg Müller und Propyläen. Gestaltet wurden die Bände von Paul Renner (1878-1956), einem der Pioniere moderner Typographie in Deutschland. Mit der Hellingrathschen Edition wurde durch ihn auch buchästhetisch ein neues Kapitel in der Geschichte der Hölderlin-Lektüre aufgeschlagen. Ausstattung und Typographie der Edition Renner griff auf eine klassizistische Antiqua aus der Werkstatt Pierre Didots zurück waren für die Zeit ungewöhnlich, und die Apparatdarstellung trieb bereits mit dem ersten, 1913 erschienenen Band einen Aufwand, der entsprechende Ausgaben anderer Autoren im Hinblick auf Detailliertheit und Übersichtlichkeit in den Schatten stellte.

Zu Paul Renner und seinem umfangreichen Schaffen, das bis weit in die siebziger Jahre das avantgardistische Design nicht nur im deutschsprachigen Raum bestimmte oder zumindest beeinflußte, gab es bislang keine gründliche Monographie. Mit dem Erscheinen der Studie von Christopher Burke »Paul Renner. The Art of Typography« (London 1998) hat sich diese Situation grundlegend geändert.

Die im Umfeld des ›Department of Typography & Graphic Communication‹ der University of Reading übrigens der weltweit einzigen mit Typographie beschäftigten Einrichtung ihrer Art entstandene Arbeit vereinigt auf beispielhafte Weise historische und ästhetische Fragestellungen. Das Exemplarische der vita Renners zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik und sog. Drittem Reich gewinnt dabei eine Kontur, die in vielerlei Hinsicht aufschlußreich ist.

Burkes Buch geht dabei äußerlich zunächst am Leitfaden der Chronologie vor. Breiten Raum nimmt die Situierung Renners im Kontext des »Werkbund[s]« ein, einer 1907 gegründeten Gruppe von Industriellen, Künstlern und Politikern, die sich angeregt von der Arts & Crafts-Bewegung William Morris für eine allgemeine Verbesserung des Produktdesigns engagierten (ja, man glaubt es zwar nicht, aber so was gabs: Industrielle und Künstler und Politiker; der Architekt Hermann Muthesius etwa gehörte mit Renner ebenso dem ›Werkbund‹ an wie etwa Friedrich Naumann; das Schibboleth lautete und auch das kann man heute kaum glauben »Qualität«; den ›Werkbund‹ gibt es übrigens immer noch, nur: niemand merkt es). Die rückwirkend oftmals hergestellte Assoziation Renners mit dem ›Bauhaus‹ wird von Burke als optische Täuschung dargestellt. Der Beziehung zu den Pionieren der sog. Neuen Typographie (Jan/Ivan Tschichold, Kurt Schwitters, Willi Baumeister), die allesamt eine Generation jünger waren als Renner, gebührt eher das Etikett spannungsreich. Die geläufige Hypothese einer kontinuierlichen Entwicklung, gar wie manchmal zu lesen einer Identifizierung, entbehrt jeden Fundaments in der Sache.

Besonderes Interesse verdienen Burkes Ausführungen zu Paul Renners 1932 in der Schweiz erschienenem Band »Kulturbolschewismus?«, einer scharfen Kritik an dem, was man bezüglich der Nazis »Kulturpolitik« zu nennen sich scheuen muß. Das von den Nazis kassierte, heute nur noch in wenigen Bibliotheken vorhandene Buch war in Deutschland bereits 1932 nicht zu publizieren (zwei befreundete Verleger hatten Renner abgelehnt). Es mußte bei Renners Freund Eugen Rentsch in Zürich erscheinen. Gegenüber den Haßparolen der Partei enthielt es eine flammende Verteidigung der Moderne in Architektur (etwa Mies van der Rohe) und Bildender Kunst (etwa Oskar Kokoschka). Zugleich wies es explizit all jene gängigen antisemitischen und antikommunistischen Ressentiments zurück, die bald darauf von Stammtischparolen zur offiziellen Staatsdoktrin avancierten. Vielleicht gibt es kein zentraleres Dokument der Zeit, welches klarer auf den Begriff bringt, daß ›Deutsch‹ zu sein mit einem Begriff wie Rasse nichts zu tun hat. Der ›Völkische Beobachter‹ machte denn auch gleich nach Erscheinen des Buches Renner zum Gegenstand des öffentlichen Hasses, und im April 1933 wurde Renner, schon zuvor ein persönlicher Feind des neuen Innenministers Wilhelm Frick, inhaftiert. Die Erläuterungen Burkes hierzu, zur späteren Freilassung Renners und zu dessen Rückzug aus dem öffentlichen Leben gehören zu den interessantesten und anrührendsten Passagen seines Buches.

Der historische Rahmen der Burkeschen Darstellung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Burke auch systematische Interessen treiben, sich mit Renner zu beschäftigen. Burke, der hauptberuflich selbst als Typograph tätig ist und die Schrift »Celeste«, in der das Buch von ihm gesetzt ist, entworfen und digitalisiert hat (übrigens mit einem eigenen Schnitt für Fußnoten), hat die Entwicklungsgeschichte von Renners berühmter »Futura« in den sachlichen (und gewissermaßen auch geometrischen) Mittelpunkt seiner Untersuchung gestellt.

Renners Entwürfe und die schließliche Produktion dieser Schrift der Erlös aus den Urheberrechten sicherte ihm u.a. während der Nazizeit seine Subsistenz sind, wie aus Burkes detaillierter Darstellung hervorgeht, nicht nur für Typographen von Interesse, sondern auch für all jene, die sich für das Verhältnis von Handschriftlichkeit und Druck interessieren. Die Futura, deren erste Entwürfe auf das Jahr 1924 datieren, war von Renner nämlich gerade vor dem Hintergrund einer spezifischen These hinsichtlich des Verhältnisses von Handschrift und Druckschrift konzipiert worden. Die beiden in der deutschen Schrift besonders häufig aufeinanderstoßenden Schriftsysteme von inschriftlicher römischer Versalschrift (wie sie etwa auf der Trajanssäule exemplarisch Gestalt gewonnen hat) und letzlich von der handschriftlichen karolingischen Minuskel abgeleiteten Kleinbuchstaben wurden von Renner als im Prinzip unvereinbar angesehen. Der Aufeinanderprall des Statischen, Architektonischen, (wie Renner in überraschender Analogie einmal schreibt) ›Apollinischen‹ der Versalien mit ihrer streng geometrischen Konstruktion und des Dynamischen, Vorwärtstreibenden, von der Bewegung der schreibenden Hand getriebenen ›Dionysischen‹ der Kleinbuchstaben störte (und stört bis heute), wenn nicht bestimmte Vorkehrungen getroffen werden, die ruhige Graufläche, die zu erzeugen eine der wichtigsten Aufgaben guter Typographie ist.

Grundsätzlich sind, bei Anerkenntnis der Problematik (der Präsenz von Handschrift und Druckschrift, wenn man so will: Privatem und Öffentlichem, in Druckschrift), zwei Wege denkbar: Man kann versuchen, die Großbuchstaben so weit zu modifizieren, daß ihre Differenz zu den Kleinbuchstaben geringer wird ein Weg, den nahezu alle neueren Schriftentwürfe seit den 90er Jahren einschlagen (in den Zwanziger und Dreißigern hat Sankt Morison noch zu einem etwas brachialeren Mittel gegriffen: er ließ die Großbuchstaben absichtlich 1-2 Punkt kleiner setzen). Oder man kann umgekehrt versuchen, alle Kleinbuchstaben auf der Basis geometrischer Bezüge so zu konstruieren, daß sie alles Handschriftliche, Vorwärtsdrängende verlieren. Die Futura ist der exemplarische Vertreter dieses Experiments.

Burke kann sehr genau zeigen, wie sich im Laufe der Entwicklung dieser Schrift das Utopische des Rennerschen Ansatzes immer mehr herausstellte. Zwar hielt Renner an bestimmten eigentümlichen (antihandschriftlichen) Formen wie n, m und r bis zum ersten Erscheinen der Schrift 1927 fest, doch war es charakteristisch, daß der Siegeszug der Futura gerade ohne diese Figuren stattfand. Sie erschienen im ersten Specimen der Bauerschen Gießerei von 1927 bereits nicht mehr im normalen Alphabet, sondern wurden nur noch als Spezialfiguren angepriesen (das zweite Specimen von 1928 zeigte sie dann gar nicht mehr). In seinem Buch »Die Kunst der Typographie«, das 1939 erschien und bis heute den erstaunlichsten Beweis für die Qualität der Futura als Buchschrift ausmacht, schrieb Renner abschließend und mit Zeichen der Resignation: »Die Futura hat einmal den Versuch gemacht, drei ausgesprochen rechtsläufige Gemeine, die nach dem Normalgießzettel mehr als ein Fünftel der ganzen Kleinbuchstabenmenge ausmachen, durch die unbewegten Formen n, m und r <Figuren> zu ersetzen; aber sie haben sich nicht eingeführt. Es scheint, daß die nach rechts drängenden Formen der n, m und r jeder europäischen Schrift unentbehrlich sind.« Nimmt man die Futura als das avancierteste Zeugnis eines reflektierten Versuchs, alle Ausdrucksbewegung aus der Typographie zu tilgen, dann zeigt sich hier nachdrücklich: Es gibt keine Schrift, sei diese auch noch so abstrakt, ohne eine letzte Spur von Körperbewegung.

Oben: aus dem Specimen von 1927; unten: aus dem Specimen von 1928; Abb. a. d. besprochenen Band

Burkes Buch, das mit einer Fülle brillanten Bildmaterials aufwartet und herstellerisch eines der besten Bücher ist, das ich in letzter Zeit in der Hand hatte, hält gerade in der detaillierten und distanzierten Analyse der Moderne an deren uneingelöstem Anspruch fest. Jedem, der sich für Bücher und Typographie des Zwanzigsten Jahrhunderts im deutschen Sprachraum interessiert, sei es wärmstens ans Herz gelegt. Es gibt hierfür nichts besseres.

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»Much that is fresh in writing and thinking comes through recovery of old texts, and through reading them against the grain of current orthodoxy in an attempt to discover the original habits of thought and language in which the work was written.« Dieser Satz, der programmatisch auch für die Bemühungen der neueren Edition und Textkritik stehen kann, findet sich in Robin Kinross eben erschienenen Band »Unjustified texts. perspectives on typography« (London 2002). Kinross, Verleger der Londoner Hyphen Press, bei der auch Christopher Burkes Buch erschienen ist, versammelt in seinem Band eigene Texte und Essays der letzten zwanzig Jahre, die zum Teil an entlegenen Stellen publiziert sind.

Nach seinem 1992 publizierten Band »Modern typography. an essay in critical history«, einem Meilenstein der neueren Typographiegeschichte, ist »Unjustified texts« der zweite Band, in dem Kinross seine denkenden Erfahrungen im Grenzbereich von Theorie und Praxis der Typographie publiziert. Das neue Buch, dessen sprechend mehrdeutiger Titel formal in dem durchgängig linksbündigen Satz seinen Reflex findet, zeigt Kinross als aufmerksamen Beobachter nicht nur der angelsächsischen, sondern auch der kontinentaleuropäischen Buchproduktion (am Beispiel der englischen und deutschen Ausgaben der Werke W. G. Sebalds gelingt es Kinross, schlaglichtartig charakteristische Unterschiede in Buchästhetik um Umgang mit dichterischen Texten herauszuarbeiten).

Das in vier Teilen ausgeführte Buch steigt von eher porträthaften kleineren Texten (»Elders, contemporaries« behandelt werden hier u.a. Frutiger, Brody, das neue niederländische Telefonbuch) über einen Teil begrifflich explizierender und zugleich historisch orientierender Essays (»Evaluations« hier finden sich neben Räsonnements über Zeitschriftentypographie, Straßenbeschilderungsästhetik und Rezensionen auch allgemeiner gehaltene Texte wie der instruktive »What is a typeface?« oder einem überaus lesenswerten Aufsatz über die Typographie von Indexen) zu jenem Gegenstandsbereich auf, der auch im Zentrum von »Modern typography« gestanden hat: der modernen Typographie, wie sie im Tschichold der Bauhaus-Zeit ihren Fluchtpunkt hat (»Stages of the modern«). Kinross erweist sich hier als detaillierter Kenner der deutschen Typographiegeschichte, und seine vergleichenden Analysen der Nachkriegsentwicklung in England und Deutschland sind für ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge unvorgreiflich.

Der vierte Teil von »Unjustified texts« enthält längere Essays neueren Datums, die auch für jeden Literaturwissenschaftler von Interesse sein dürften, beschäftigen sie sich doch kritisch mit jenen postmodern genannten Bestrebungen in der Designtheorie (wenn man so in diesem Fall überhaupt sagen kann), die zur Moderne in gespanntem auch logisch gespanntem Verhältnis stehen. Die ausführlichen Ausführungen zur Zeichentheorie und der Versuch, Saussure gegen seine postmodernen Liebhaber zu verteidigen, sind anregend zu lesen und lassen einen Geist erkennen, dessen parti pris für die Moderne und gegen die Beliebigkeit der Postmoderne hervorsticht. Moderne Typographie und neuere Shakespeare-Philologie gehen hier ein überraschendes Bündnis ein, und wer jetzt ein wenig neugierig geworden ist, sollte sich die Lektüreerfahrung von »Unjustified texts« nicht versagen.

Ziemlich genau in der Mitte des Bandes findet sich ein Bekenntnis Kinross zu seinem Lieblingsbuch (das auch eines der meinen ist): Adornos zwischen 1944 und 1947 niedergeschriebenen »Minima Moralia«. Ich lese das als einen Fingerzeig, denn wer sich durch die knapp 400 Seiten des Bandes hindurchgelesen hat, wird nicht nur mannigfaltige Anregung zum Nachdenken erhalten haben; er wird auch einen Eindruck von einer beobachtenden menschlichen Instanz gewonnen haben, die nicht moralistisch, wohl aber im Geiste des Adornoschen Buches moralisch genannt werden kann. Es müßte mehr solcher Instanzen geben.

rr

Weiterführende Hinweise:
Interview mit Christopher Burke
Interview mit Robin Kinross
Hyphenpress, London

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