Vom letzten zum allerletzten Sahnehauberl

Eben bringt mir der Postbote ein Packerl von KD mit einem Exemplar des Bandes:

Von der ersten zur letzten Hand. Theorie und Praxis der literarischen Edition. Hrsg. v. Bernhard Fetz u. Klaus Kastberger (Österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek).

Der vom Österreichischen Bundeskanzleramt (Sektion für Kunstangelegenheiten), dem »BM« (!?) für Bildung Wissenschaft und Kultur, der Bank Austria Stiftung und – ja, man traut seinen Augen nicht – der Österreichischen Nationalbibliothek »dankenswerter Weise« unterstützte Band will repräsentativ sein und wurde offenbar den Teilnehmern des »10. Weltkongresses der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft« (im September 2000) präsentativ überreicht. Seinem Anspruch nach will der Band »die wichtigsten Editionsprojekte zur neueren österreichischen Literatur meist von den Editoren selbst beschrieben« bieten (Vorwort). Eberhard Sauermann berichtet etwa von der Innsbrucker Trakl-Ausgabe, Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller schreiben über die neue historisch-kritische Ausgabe Adalbert Stifters usw.

Einigermaßen seltsam berührt hat mich zunächst ein Passus des Vorworts, der die letzten 150 Jahre Institutionsgeschichte von so etwas wie Archiv mit leichter Hand beiseitezufegen sucht. Bernhard Fetz und Klaus Kastberger beginnen ihr Vorwort mit folgenden Sätzen:

Der vorliegende Band dokumentiert die Leistungen der österreichischen Literaturarchive und der österreichischen Germanistik auf dem Gebiet der Editionstätigkeit. Es entspricht dem gewachsenen Selbstbewußtsein daß sie ihre Bestände nicht nur sammeln und formal erschließen.

Was für die federführenden Archivare der unverhohlene Traum ihrer Lebensplanung sein mag, wäre für die Wissenschaft ein Alptraum. Es hat nämlich seinen guten Sinn, daß Institutionen öffentlichen Rechts, die Materialien verwahren, nicht gleichzeitig die wissenschaftliche Arbeit an ihnen betreiben oder gar dominieren. Wie das in Österreich rechtlich ist, kann ich nicht beurteilen, in Deutschland ist das bei vom Staat getragenen Archiven aber klar geregelt: Die Archive forschen nicht, und sie kriegen eins von den Geldgebern (vulgo den Steuerzahlern und ihren Repräsentanten in der Verwaltung) auf die Finger, wenn sie das doch tun. Würden sie nämlich forschen, stürzten sie zwangsläufig von einem Interessenkonflikt in den anderen, und die Wissenschaft hätte den Nachteil. Der Interessenkonflikt liegt auf der Hand, denn als Editor stünde der Archivar Anfragen alternativer Editionen niemals unparteilich gegenüber, Informationen würden zurückgehalten, Manuskripte könnten etwa vorübergehend »in die Konservierung« geschickt werden, und was sich eine erfindungsreiche Archivarenphantasie alles ausdenken mag. Die Atmosphäre in einem Archiv kann man sich leicht vorstellen, wenn der Archivar, der dem wissenschaftlichen Benutzer die Handschrift aushändigt, diesem auf Grund des Konkurrenzdrucks  am liebsten die Pest an den Hals wünschte. Verifikation wissenschaftlicher Arbeit wäre erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Was die beiden Herausgeber unseres österreichischen Bandes als sich abzeichnenden Fortschritt preisen, ist reaktionär und widerspricht allen historischen Erfahrungen, die mit ähnlichen auf conflict of interest programmierten Modellen gemacht wurden. Gewaltenteilung, nicht Machtanhäufung so müßte die Maxime lauten, nicht umgekehrt.

Nun scheint das Österreichische Literaturarchiv offenkundig in der Tat die Befürchtung zu haben, nicht mächtig genug zu sein, und das heißt hier doch wohl: nicht genügend Autoren archivieren und – ich schlage drei Kreuze – forschend bearbeiten zu können. So findet sich befremdlicherweise in dem Band »zur neueren österreichischen Literatur« auch ein Artikel zu Georg Büchner von Jan-Christoph Hauschild. Genau: Georg Büchner. Wer meint, das gehe so durch, weil dort letztlich »Karl Emil Franzos als Editor« Gegenstand der Untersuchung ist, versucht nur, das Schokoladenfleckerl auf der Hose durch Reiben wegzubringen. Sowenig wie etwa Bela Bartok ein Österreicher gewesen ist, sowenig ist dies auch der 1848 in Czortków (Galizien) geborene Karl Emil Franzos. Da wird offenbar KuK mit Österreich verwechselt, ein Mißgriff, der historisch Gebildeten eigentlich nicht passieren sollte – es sei denn, es ist kein Versehen, sondern hat Methode.

Auf diesen Gedanken kann man jedenfalls kommen, wenn man sieht, daß, hoppala, umstandslos auch Franz Kafka unter der Rubrik der »neueren österreichischen« Autoren aufgeführt wird. Es bedarf wohl keiner großer Beweise um einzusehen, daß das genauso nonsense ist, wie wenn ein deutsches Literaturarchiv Kafka als deutschen Autor führen würde (oder warum dann nicht gleich Grillparzer oder Robert Walser auch als deutschen Autor führen?); die Anzahl Kafka-Blätter, die in Österreich verwahrt wird, ist, nun ja, kleiner zehn, und die Editionen, die in Österreich Kafka erschließen, sie existieren nicht. So what? Daß der Artikel zu Kafka vorher schon grosso modo in der »Presse« stand und von jemandem verfasst worden ist, der bislang weder in der Editionswissenschaft noch in der Kafka-Forschung sonderlich aufgefallen ist, wäre an sich noch kein K.O.-Kriterium, die Anhäufung der Phrasen, die in diesem Artikel begegnen (er beschäftigt sich übrigens ausschließlich mit dem nun ausgerechnet in Marbach liegenden Romanentwurf »Der Process«), ist es. Kafka und Kafka-Edition hier (das Wort ist selten am Platz, aber hier passt es:) abzuhandeln – man muß dazu schon eine gewisse Skrupellosigkeit haben. Und im Vorwort muß man dann halt »meist« schreiben: »die wichtigsten Editionsprojekte zur neueren österreichischen Literatur meist von den Editoren selbst beschrieben«. Es wäre schon viel und genau genommen – denn das käme doch allenfalls den Archivaren zu – ein Wunder, wenn »Archive« ein Bewußtsein hätten; auf ihr, auf dieses Selbstbewußtsein kann die scientific community getrost verzichten.

rr