Der springende Punkt

Friedrich Hölderlins Gedichte in einer neuen kommentierten Ausgabe

In der handlichen, in Leinen gebundenen Reihe der »Gedichte«-Ausgaben bei Reclam sind dieses Jahr die Gedichte von Hölderlin erschienen:

Friedrich Hölderlin, Gedichte. Herausgegeben von Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit Wolfgang Braungart, Nachwort von Bernhard Bschenstein (Stuttgart 2000), 666 Seiten.

Die Texte der Gedichte sind nicht, wie es bei dem Genre von Alles-in-einem-Band-Ausgaben auch heute noch vorkommen kann, von irgend einer copyright-freien Ausgabe abgedruckt worden, sie sind vielmehr nach einer kritischen Sichtung von jenen fünf Hölderlin-Ausgaben zusammengestellt worden, die seit einigen Jahren als koexistent betrachtet werden. Das gibt dem Band einen wissenschaftlichen Anspruch, der nur zu begrüßen ist; allerdings erlaubt und erfordert dieser philologische Anspruch auch eine kritische philologische Prüfung. In der knappen editorischen Notiz »Zu dieser Ausgabe« wird bemerkt: »Den Texten der vorliegenden Auswahl- und Leseausgabe liegt zugrunde: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von Friedrich Beiner [u.a.], 8 Bde., Stuttgart: Cotta / [seit 1951] Kohlhammer, 1943-85.« (447) Trotz der akribischen bibliographischen Angabe stimmt das nur cum grano salis. Denn: »Alle Texte wurden behutsam modernisiert« (ebd.). Diese nach der letzten orthografischen Reform nun doch schon dezent komisch wirkende Formulierung verrät aber, woher die Textgestalt wirklich stammt: aus der Hölderlin-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags. Denn die vier übrigen genannten Hölderlin-Ausgaben behalten die originale Orthographie Hölderlins bei.

Da die »behutsame« Modernisierung der Rechtschreibung in Hölderlins Gedichten nur Unheil stiftet, zeigt sich eigentlich schon an Gedichtüberschriften: »Heimath« wird zu »Heimat«, »Brod und Wein« zu »Brot und Wein« und »Der Nekar« zu »Der Neckar«, aber »Stutgard« wird nicht etwa zu »Stuttgart«, sondern bleibt »Stutgard« nur im Nachwort wird etwas kühner modernisiert: »Die Reihe der großen geschichtsphilosophischen Elegien [...] beginnt mit Stutgart.« ( 633) – Bei manchen Wörtern werden durch die Nivellierung der Schreibweise auch sinntragende Differenzierungen eingeebnet. Das zeigt sich beispielsweise bei den nicht mehr »seeligen« »Seligen« oder bei der Aufhebung der orthographischen Differenz von »fest« und »vest«. So ist die im Nachwort zweimal zitierte Wendung aus dem Schluß von »Patmos« in der modernisierten Form buchstäblich nicht von Hölderlin: »da gepfleget werde / Der feste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet« (348, 634, 638); sondern bei ihm steht geschrieben: »da gepfleget werde / Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet« (StA 2, 172).

Auch wenn sich die neue Gedicht-Ausgabe immerhin um den Nachweis der zur eigenen Textkonstitution benutzen Textvorlagen bemüht, ist nicht zu übersehen, daß sie sich das neu etablierte Genre der »Deutschen Klassiker-Ausgabe« zum Vorbild genommen hat. Das Gewicht des herausgeberischen Anspruchs liegt deutlich erkennbar auf dem philologischen Kommentar, der die klassische Norm – bzw. die DKV-Norm – von zwei zu einem Drittel erfüllt. (Und dies unübertrefflich präzis: zu 444 Seiten Hölderlin-Text 222 Seiten Kommentar).

Der Begriff des philologischen Kommentars, der eine lange und widersprüchliche Geschichte aufweist und auch in der neueren Editionswissenschaft alles andere als geklärt oder gar verbindlich ist, läßt, ganz schematisch gesehen, eine gewisse Doppelbedeutung erkennen: Er bezieht sich einerseits auf die Herstellung des Textes selbst, andererseits aber auch auf dessen Sinngehalt. In der neueren Diskussion über den wünschbaren Grad der philologischen (Un-)Genauigkeit von Editionen wird nun dieser zweiten Bedeutung von Kommentar, der Feststellung von Sinngehalten die oft genug zu Festlegungen von Sinn werden , immer deutlicher der Vorrang vor einer mehr asketischen Auffassung eines rein textkritischen Kommentars gegeben, wie er heute mehr und mehr bei historisch-kritischen Ausgaben praktiziert wird. Diese neue antikritische Tendenz zeigt sich ganz offen in einem 1999 in der Zeitschrift »editio« publizierten Aufsatz mit dem polemischen Titel »Wie ediert man Franz Kafkas Proceß«, wo unter obligater Berufung auf Niklas Luhmann der »Ausdifferenzierung« der »Textologie« ein Riegel vorgeschoben werden soll: Nicht mehr um »ein sehr limitiertes Entdeckerverhalten« – wie etwa bei der Zumutung, »die Ligaturen der Handschrift reproduziert zu bekommen« – solle es bei künftigen Editionen gehen, sondern um die »Ausbreitung generalisierbaren Wissens«, d.h. also um leserorientierte Kommentierung, die dann aber doch wieder »möglichst deutungsarm zu halten« sei. Als Vorbild könne die neue (allerdings gar nicht so deutungsarme) »Kommentierte Rilke-Ausgabe« im Insel-Verlag gelten. Solche antiphilologische Tendenz in der editionswissenschaftlichen Diskussion verkennt allerdings die sit venia verbo Dialektik im Begriff des Kommentars. Philologische Kultur kann nur als eine Kultur der Schrift und der Buchstäblichkeit, indem sie sich immer erneut um die Prüfung der Überlieferung kümmert (in Hölderlins Sprache: »daß gepfleget werde / Der veste Buchstab«) auch eine geistreiche Kultur des Kommentars hervorbringen (Hölderlin: »und bestehendes gut / Gedeutet«). Die Abtrennung der textkritischen Dimension des Kommentars bringt diesen um seinen lebendigen Begriff. Deshalb wirken die Stellenkommentare in systematisch kommentierten Editionen häufig so sinn- und leblos. Aufs Ganze des kommentierten Textes gesehen ist der Einzelkommentar notwendig zufällig: Daß im kommentierten Text gleichzeitig immer zu viel und immer zu wenig erläutert wird, ist der Preis für die wissenschaftliche Begriffslosigkeit beim Geschäft des Kommentierens.

Beispiele von Kommentarblüten aufzuführen ist nicht schwer, und es wirkt fast schon ungerecht, würde man die unfreiwillige Komik den Herausgebern anlasten, da sie doch aus der Sache oder dem Sachzwang selbst entsteht. Oder wie soll man sich folgende Stichproben des Kommentars zu Gedichten Hölderlins sonst erklären?

S. 511, zu »Stutgard«: »1 Wieder ein Glück ist erlebt: In der Formulierung steckt ein bewußt schwäbischer Tonfall.«
S. 533, zu »Die Wanderung«: »28 Schwalben: Die Schwalben kommen im Frühjahr aus Kleinasien und fliegen im Herbst wieder dorthin.«
S. 539, zu »Heimkunft«: »3 scherzende Bergluft: scherzend: mutwillig, munter, tändelnd, kosend, spöttisch.«
S. 551, zu »Der Einzige«: »10f. Zevs ... Töchter: Zeus, der höchste griechische Gott, ist der Erzeuger der meisten anderen Götter.«
S. 540, zu »Heimkunft«: »61 Reizend: verlockend, anziehend.«
S. 574, zu »Ganymed«: »22 Der ist aber ferne: alltagssprachliche Wendung.«
S. 589, zu »Das Nächste Beste«: »89 Frankfurt: Alliteration zu ›Frankreich‹. Frankfurt liegt ungefähr in der Mitte Europas.«

Neben solchen Kommentar-Blindgängern finden sich auch Wiederholungen von bestimmten Worterläuterungen, die sich allerdings in einem additiv gedachten Kommentarmodell wohl kaum vermeiden lassen, wie etwa der an sich einleuchtende Hinweis auf die Bedeutung der »Blumen« als Metapher für dichterische Rede, der sich fast jedesmal einstellt, wenn im Text das Wort »Blume« steht oder die Erläuterung zum Wort »törig« (515, 537, 540). Ähnlich überflssig erscheint einem die fleißige Reproduktion von schierem Lexikonwissen (z.B. »Orkus: Unterwelt«, mehrfach) oder schlaue Bemerkungen zur Textstrategie Hölderlins (etwa 572, zu »Blödigkeit«: »21 geschickt: doppeldeutig«); das sind Bemühungen, welche dem Schreibtischgespenst des Durchschnittslesers geschuldet sind, das gleichermaßen in Studierstuben und Verlagsbüros spukt.

Natrlich enthält der Einzelstellenkommentar aber auch interessante und wertvolle Hinweise, die das Verständnis des Textes oder der Textstelle wirklich erhellen und die sich der aufmerksamen Durchsicht der Sekundärliteratur verdanken. Sie erinnern an den impliziten Anspruch der Ausgabe, ein Kondensat der neueren Hölderlin-Forschung zu sein. Aber die Freude bleibt punktuell, denn das Auge des Lesers wird so gleichzeitig für die Lücken geschärft, die im System des Stellenkommentars zwar immer entstehen, die aber in gewissen Fällen auch wirklich ärgerlich sind. Dazu ein Beispiel: Die Elegie »Der Wanderer« wurde von Hölderlin zweimal publiziert. Das erste Mal 1797 in Schillers »Horen«, das zweite Mal in stark berarbeiteter Form 1801 in einem Almanach »Flora. Teutschland Töchtern geweiht«. »Der Wanderer« ist Hölderlins erste Elegie und ihre Entstehungsgeschichte ist das Dokument einer Leidensgeschichte: der Beziehung Hölderlins zu Schiller. Die redaktionellen Umstände des Erstdrucks, die durch den Briefwechsel von Goethe und Schiller gut bezeugt sind, wurden vor 25 Jahren im ersten regulären Textband der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe von D.E. Sattler akribisch aufgearbeitet und auf 60 Seiten übersichtlich dargestellt (FHA 6, 11-72). Es kann kein Zweifel sein, daß Schiller an einigen Stellen Hölderlins Gedicht eigenhändig entstellt hat. So findet sich im erhaltenen Entwurf Hölderlins folgende Textpassage, V.5-8:

Ach! hier sprang, wie ein sprudelnder Quell, der unendliche Wald nicht

In die tönende Luft üppig und herrlich empor.

Hier frolokten die Jünglinge nicht, die stürzenden Bäche

Ins jungfräuliche Thal hoffend und liebend herab. (FHA 6, 55)

Wahrscheinlich standen diese Verse auch so in der Reinschrift, die Schiller für die Horen-Fassung redigiert hat. Im Erstdruck liest man dann aber:

Ach! nicht sprang, mit erfrischendem Grün der schattende Wald hier

In die säuselnde Luft üppig und herrlich empor,

Bäche stürzten hier nicht in melodischem Fall vom Gebirge,

Durch das blühende Thal schlingend den silbernen Strom,

Und genau diese Horen-Fassung wird wortwörtlich in der neuen Gedichtausgabe behutsam modernisiert abgedruckt. Und was sagt der Kommentar? Weist er auf den literaturhistorischen Skandal hin? Erklärt er ihn? Da liest man lediglich: »Schiller veröffentlichte das Gedicht, vielleicht mit Eingriffen, in den Horen 1797« (481). Zu der fraglichen Stelle der Elegie, V. 5-8, sagt der Kommentar nichts, noch gibt er gar den authentischen Wortlaut des Entwurfs zum Vergleich. Auch die DKV-Ausgabe druckt die Horen-Fassung als verbindlichen Text und verweigert ihren Lesern hartnäckig den originalen Wortlaut des Entwurfs, aber zumindest schreibt der Herausgeber noch: »Wahrscheinlich hat Schiller an einigen Stellen ändernd in Hölderlins Gedicht eingegriffen, wie sich vor allem an V. 5 beobachten läßt« (DKV 602, Hervorhebung W. G.). Hier werden, aus welchen Gründen auch immer, Forschungsergebnisse, die seit Jahrzehnten zugänglich sind, unterschlagen.

Die Abhängigkeit des Reclam-Kommentars von dem des Klassikerverlags zeigt sich in den kleinen autonomistischen Tendenzen von Kurz und Braungart gerade am deutlichsten: Nicht nur in der Abschattung von »Wahrscheinlich« zu »vielleicht« bezüglich der Schillerschen Eingriffe in Hölderlins erste Elegie, sondern auch bei der Praxis des Abschreibens, die ebenfalls notwendig zum Geschäft des Kommentierens zu gehören scheint. So steht bei Schmidt im Kommentar zu V. 24 von »Der Wanderer«:

Pygmalion] Nach der Sage ein Bildhauer, der sich in eine von ihm geschaffene weibliche Statue verliebte; Venus belebte sie auf sein Bitten (Ovid, Metamorphosen X 243-297).« (DKV 603).

Die Herausgeber der neuen Ausgabe schreiben zum selben Vers:

Pygmalions Arm: Der Bildhauer Pygmalion verliebte sich in eine von ihm selbst geschaffene weibliche Statue. Aphrodite [sic!] belebte sie auf seine Bitten, vgl. Ovid, Metamorphosen 10, 243-297. (481)

Schmidt gibt zum Erstdruck von »Der Wanderer« fünf Einzelkommentare, die Herausgeber der neuen Ausgabe ebenfalls fünf. Den textkritischen Kommentar zu V. 5 übernehmen sie nicht, dafür kommentieren sie: »54: heiterer: klar, heiter« (481). Indem die Herausgeber der neuen Ausgabe »besonders die reichen Kommentare von Jochen Schmidt« (447) dankend hervorheben, übernehmen sie auch dessen textphilologische Reduktionen und simplifizieren sie noch weiter.

Ein anderer Fall textkritischer Fahrlässigkeit mittels Kommentierung ist bei Hölderlins rätselhaftem Gedicht »Der Winkel von Hahrdt« zu beklagen, das den Schluß der sogenannten »Nachtgesänge« bildet. Hier hätte sich den Herausgebern eine Gelegenheit geboten, sich gegen die starrsinnige Beißnernachfolge der DKV-Ausgabe zu profilieren. Und zwar geht es hierbei buchstäblich um einen zwischen den verschiedenen Editionen springenden Punkt. Der Vers in der Mitte des Gedichtes lautet im Erstdruck, dem einzigen Textzeugen, der von diesem Gedicht existiert: »Nicht gar unmündig« – ohne Punkt am Ende der Zeile. Beißner hat dann, um dem Textgebilde Eindeutigkeit zu geben, aus freien Stücken einen Punkt gesetzt. Dagegen hat Sattler 1975 im Einleitungsband der FHA opponiert und wieder die Textgestalt des Erstdrucks geltend gemacht. Es entstand eine Debatte, die auch in der Hölderlinliteratur aufgenommen wurde. Die Ausgabe im DKV setzt den Punkt wieder hin und kommentiert: »Im Druck fehlt der Punkt.« Umgekehrt, aber eigentlich weniger mutig, kommentiert Michael Knaupp seinen Text, wo nach »unmündig« kein Punkt steht: »StA setzt dahinter einen Punkt«. Und was machen nun die Herausgeber der Neuen Gedichte-Ausgabe? Sie setzen wieder einen Punkt nach »unmündig« und kommentieren: »MA setzt keinen Punkt nach ›unmündig‹.« (576). Keine Rede mehr von einem Erstdruck, kein überflüssiger Gedanke zur komplexen Syntax der Stelle, kein Wort darüber, daß es hier einen wissenschaftlichen Dissens gibt. – Es ist aber so, daß das kleine Gedicht »Winkel von Hahrdt« mit einem Punkt nach dem fünften Vers ein anderer Text ist als das Gedicht ohne diesen Punkt. Ohne Punkt, d.h. in der Textgestalt des Erstdrucks, wird in Form einer Inversion gesagt, daß Ulrich »nicht gar unmündig« gewesen sei. Das impliziert – wenn man sich um den historischen Hintergrund des Gedichtes kümmert – eine politische Anspielung; denn der Herzog Ulrich von Württemberg hatte seine Regierungszeit als Elfjähriger unter Vormundschaft begonnen und wurde mit sechzehn Jahren für mündig erklärt. Um die Beißnersche Konjektur zu retten, muß man das Wort »unmündig« aber anders definieren. Schmidt kommentiert: »Im Druck fehlt der Punkt. Der ›Grund‹ des Aichtals, durch das Herzog Ulrich floh, ist nicht ›unmündig‹, d. h. er weiß von diesem Schicksal zu sagen – das Wort ›unmündig‹ wird hier gegen die eigentliche Etymologie von ›Mund‹ abgeleitet.«(DKV 842). Kurz und Braungart sind hier großzügiger: »5 unmündig: Mündig ist, wer für sich selbst bestimmen, für sich selbst Verantwortung bernehmen kann. Auch: sprechend, verkündend. MA setzt keinen Punkt nach ›unmündig‹.« (576) Der Effekt der unbedachten Liberalisierung ist aber, daß der Kommentar zum Beißnerschen Text keinen Sinn mehr ergibt, denn warum sollte der »Grund« nun »für sich selbst Verantwortung übernehmen«? Stattdessen findet sich in der nächsten Zeile der ideenflüchtige Kommentar: »6 Ulrich: Die Formulierung erzeugt den Effekt einer Vertrautheit.« O wie sehnt man sich hier nach den Zeiten Adornos zurück, der bei ebendieser Stelle noch »den Schock des unvermuteten Namens Ulrich« wahrzunehmen wußte!

Noch kurz zur Anlage des Ganzen: Die neue Gedicht-Ausgabe enthält vom »Dankgedicht an die Lehrer« bis zu »Die Aussicht« in strikter chronologischer Anordnung die Lesetexte von Hölderlins Gedichten, die wiederum in fünf trocken nach Jahreszahlen gruppierten Abteilungen untergliedert sind. Das entspricht im Wesentlichen der Anordnung der DKV-Ausgabe und soll die Verwischung des Entstehungschronologie durch die Gliederung der Gedichte nach Gattungen verhindern, wie man sie in StA und FHA findet. Das Problem, das man sich damit einhandelt, ist aber einerseits die Crux der genauen Datierung, andererseits werden aber auch Werkzusammenhnge auseinandergerissen, etwa bei der Oden- und der Elegiendichtung. Empfindlicher als solche Effekte, die an sich kaum zu vermeiden sind, ist jedoch der laxe Umgang der Herausgeber mit der Unterscheidung in publizierte und unpublizierte Text. So werden Erstdrucke bisweilen gar nicht erwähnt (z.B. bei der 1801 in der »Flora« gedruckten Elegie »Heimkunft« oder beim Gedicht »Andenken«) und von einer Differenzierung in publizierte oder reinschriftliche und solche Gedichte, die nur als Entwurf erhalten sind, ist keine Spur zu finden. So hat man denn auch wieder drei säuberliche »Fassungen« von »Der Einzige«, aber, diesmal, nur eine Fassung von »Mnemosyne«: die Schmidtsche.

Es überrascht nicht, daß der auswählende Rückgriff auf die beiden Leseausgaben von Schmidt und Knaupp vor allem bei den großen freirhythmischen Gedichten nach 1800 stattfindet. Beim Vergleich der Copyright-Vermerke wird allerdings wieder eine feine Hierarchisierung spürbar: Vorbehalte vom Typus »Es ist nicht ganz sicher, ob die Textteile eine einheitliche Gedichtkonzeption bilden« (So zu »Kolomb«, 591, oder zu »Heimat«, 576 u..) finden sich nur da, wo der Text der Hanserausgabe folgt. Wenn das Copyright beim deutschen Klassikerverlag liegt, wie z.B. bei »Patmos (Ansatz einer späteren Fassung)«, findet sich höchstens der stereotype Vermerk: »Andere Textkonstitutionen: StA, MA, Uffhausen«. – Später kann man dann mal mit Bleistift dazuschreiben: oder FHA.

Als kritischer Leser und Philologe wird sich fragen lassen müssen: Ist denn eine solche für den Haus- und Schulgebrauch erstellte Ausgabe nicht doch besser als gar nichts? Aber man muß diese Frage verneinen. Denn der springende Punkt ist doch, daß durch eine solche Ausgabe einmal mehr eine antiphilologische Tendenz bestrkt wird, welche textkritisch nicht ausdiskutierte Überlieferungsprobleme ignoriert und mehr oder weniger beliebige Textkonstitutionen auch dann kanonisch machen will, wenn gar kein Text vorhanden ist. Eine gegenüber Text- und Überlieferungsfragen dergestalt indifferente Kommentar-Ausgabe wird wohl auch keine hermeneutische »Vermittler«-Funktion mehr übernehmen können: Sie stellt sich eher dar als ein Verfallsprodukt von Philologie.

wg

Auf den Funotenapparat wurde in dieser Netzversion verzichtet. Lesen Sie die vollständige Rezension in T E X T 6