running commentary

Eben ist im Netz ein Kommentar (hier) zu unserem Appell erschienen, der nicht ohne Antwort bleiben kann. Besagter Artikel, der die Frage nach begründeter Erkenntnis offenbar nicht einmal mehr zu stellen sich getraut, scheint auf der Oberfläche ein Plädoyer für die Fortsetzung unserer Arbeit.

Tatsächlich ist die in ihm anzutreffende Mischung aus guten Ratschlägen und altklugen Einsichten, garniert mit rhetorischen Versatzstücken aus der Politikersprache (»Handlungsbedarf«, »Dienstleistungen«) dazu geeignet, unser Projekt zu desavouieren – er verdient deshalb eine Klarstellung. Ich kommentiere nur das Gröbste:

Die Schreib-, Streichungs- und Ersetzungsvorgänge sind damit [in der Ausgabe des S. Fischer Verlags] so gründlich und so übersichtlich nachgezeichnet, wie dies ein lemmatisierter Apparat nur tun kann.

Hätte der Schreiber sich mit den Entwicklungen der germanistischen Edition in den letzten fünfzig Jahren vertraut gemacht, müßte ihm bekannt sein, daß bereits die Wahl eines lemmatisierten Apparats für die Darstellung von Kafkahandschriften ein fundamentaler methodischer Fehler war. Man fiel damit weit hinter die bereits von Beißner in der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe vorgelegten Modelle genetischer Apparate zurück (von späteren Forschern ganz zu schweigen) – und hielt es noch nicht einmal für nötig, die Wahl dieser inadäquaten Darstellungsmethode zu rechtfertigen.

Das ist keine Geschmacksfrage, sondern ein irreparabler Betriebsunfall. Ein lemmatisierter Apparat kann im Falle der Kafkaschen Entwürfe gar nichts »nachzeichnen«, er ist schlicht das falsche Mittel, um Entstehungsprozesse darzustellen. Für »Pluralismus« einzutreten, ist das Eine; das andere ist, die Wahrheitsfrage zu neutralisieren.

Keine der vorhandenen und entstehenden Kafka-Ausgaben beantwortet alle Fragen des Lesers, keine ist überflüssig, keine lässt sich gegen die jeweils anderen ausspielen.

Gleichwohl gibt es bessere und schlechtere Ausgaben. Das Maß für »besser« und »schlechter« ergibt sich daraus, wieviel an Details eine Ausgabe ›rettet‹, und wiewenig Gewalt sie diesen Details antut. Aus dieser Perspektive ist nicht alles gleich ›unmittelbar zu Gott‹ (Ranke).

Schon die etwas weniger akribische Lektüre der FKA wird etwas tun, wogegen die Editoren sich verwahren: Sie wird die Transkription so bewerten, als sei sie Kafkas Text, denn des Wunsches nach einem lesbaren Text kann sich auch diese Edition nicht erwehren.

Was ist das für ein Argument? Wir werden auch niemanden daran hindern können, mit unserer Ausgabe den Ofen zu befeuern. Die Darstellungsprinzipien unserer Ausgabe determinieren keinen Gebrauch.

Der Wunsch nach einem »lesbaren« Text ist interessant, wir widerstehen seiner Verlockung aber mit Gründen. Nicht weil wir etwas gegen Lesbarkeit hätten, im Gegenteil: Unsere Edition legt einen ihrer Hauptakzente darauf, Kafkas experimentelles Schreiben lesbar zu machen, freilich nicht als linear fortlaufenden ›Text‹, sondern als experimentierenden Entwurf – so wie er überliefert ist. Talmiprodukte werden daraus – mit guten Gründen – von uns nicht hergestellt. Dohle, nicht Simili-Dohle.

In seinem Plädoyer »Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe«, das sich im 1995 erschienenen Einleitungsband zur Frankfurter Kafka-Ausgabe findet, wendet sich Roland Reuß mit aller Schärfe gegen den »ideologische[n] Zug einer germanistischen und verlegerischen Praxis [...], die statt in einer adäquate Darstellung der Materialien und einer damit immer einhergehenden Kritik der Filter und kulturellen Zensurinstanzen ihren Ehrgeiz vor allem in eine neuerliche autoritäre Textkonstituierung setzt«.

Dazu stehe ich auch elf Jahre später noch, theoretisch und in der Praxis.

An deren Stelle soll für jeden Leser die Lektüre der faksimilierten Handschrift treten, deren diplomatische Umschrift nur Lesehilfe sein kann. Ob es sich um eine Überforderung des Lesers handelt, der immerhin an der Transkription zweifeln und sich damit genauso intensiv einbringen müsste wie der Editor selbst, sei dahingestellt.

Wer einmal einen Blick in die Apparatdarstellung der S.Fischer-Ausgabe geworfen hat, wird wissen, was »Überforderung des Lesers« genannt zu werden verdient. [Über das Wort »einbringen« schreibe ich besser nichts.] Dagegen ist der Umgang mit unserer Edition, wie mein Sohn sagen würde, in der Tat ›babyeinfach‹.

Zumindest am Rande des Polemischen ordnet Reuß die u. a. von Malcolm Pasley und Gerhard Neumann herausgegebene KKA der Nachfolge Max Brods zu, dessen Editionspraxis zu korrigieren sie ja angetreten war.

Ich habe nicht polemisiert, sondern kritisiert. Ein Vergleich der »Prozess«-Edition von Brod mit der »Proceß[!]«-Edition von Pasley zeigt, daß der konstituierte Text Brods mehr von Kafka mitteilt als der der späteren Edition (es geht hier sogar um ganze Kapitel). Bereits hieran ist abzulesen, daß etwas mit der editorischen Konzeption der S.Fischer-Ausgabe nicht stimmen kann. Daß außerdem die Vorstellung eines kurz vor der Vollendung stehenden ›Romans‹, den der Editor nur noch fertigzustellen habe, eine reine Fiktion ist, haben wir lang und breit – und mit Gründen – erläutert. Und wir haben daraus die Konsequenz gezogen, den »Process«-Entwurf nicht mehr als hübsch geordnetes Buch herauszugeben, sondern als Sammlung von Einzelkonvoluten. Wenn der gutmeinende ›Pluralist‹ in dieser Angelegenheit mit neuen Argumenten aufwarten kann, bitteschön, möge er sie nennen.

Und Gerhard Neumann und Malcolm Pasley hier in einem Atemzug zu nennen, ist entweder unkundig oder bewußt irreführend. Gerhard Neumann und Wolf Kittler haben früh schon für ein Projekt wie das unsere plädiert, konnten sich aber nicht gegenüber den Interessen durchsetzen, die dem von anderer Seite entgegenstanden.

Das Instrument des Langzeitprojekts, der auf nicht weniger als zwölf Jahre gestellte Antrag auf Förderung eines notwendigen Unternehmens, das sich aber beschränkt auf die Faksimilierung und Transkription einer in der Tat auch für den geübten Normalleser leicht entzifferbaren Handschrift ist eine antragspolitische Steilvorlage und erforderte ein Potential an Erkenntniszugewinn, das der FKA zumindest seitens der DFG-Gutachter offenbar nicht zugetraut wird und das sich auch nicht binnen kurzer Zeit belegen lässt.

Der Antrag ist in Kenntnis des Umfangs und der Komplexität der Kafkaschen Hinterlassenschaft gestellt worden und erstreckt sich, was die personale und sachliche Ausstattung anlangt, auf das Minimum, um die Arbeit in 12 Jahren vollenden zu können.

Infam finde ich die Charakterisierung, die von uns vorgelegte Edition beschränke sich »auf die Faksimilierung und Transkription einer in der Tat auch für den geübten Normalleser leicht entzifferbaren Handschrift«. Ich schiebe einmal die Erinnerungen an die oben bereits notierte, seltsam irgendwo ›dahingestellte‹ Rede von einer »Überforderung« beiseite, und notiere

1. die Handschrift Kafkas ist manchmal gut, manchmal schlecht (etwa in den Oktavheften) lesbar; so zu tun, als habe man es hier mit quasi-Reinschriften zu tun, ist falsch;

2. die Transkriptionen sind nicht nur diplomatisch, sondern zugleich chronologisch, d.h. sie enthalten alle Informationen, die herkömmliche Stufenapparate transportieren;

3. ihre Herstellung verlangt große Akribie und ist auf Grund der Vertracktheit von Kafkas Änderungen durchaus nicht so einfach, wie das der »Pluralist« anzunehmen scheint;

4. unsere Ausgabe beschränkt sich – hat der »Pluralist« überhaupt schon einmal einen Band in der Hand gehabt? – durchaus nicht auf Faksimile und typographische Umschrift:

Die Ausgabe liefert vielmehr mit jedem Band

– einen umfangreichen Essay zum Verständnis der Materialien;

– sie enthält die textkritische Edition der aus den Entwürfen hervorgegangenen Drucktexte;

– und sie enthält im Falle der biographischen Notizen Kafkas ausführliche Kommentare (zu besichtigen etwa in der Edition der ersten beiden Quarthefte, wer will, kann das mit dem Kommentar der S.Fischer-Ausgabe vergleichen).

So zu tun, als wären wir kopierende Affen eines selbstevidenten Überlieferungszusammenhangs, resultiert entweder aus Unkenntnis unserer Edition oder aus Unkenntnis der spezifischen Problematik der Kafkaschen Entwurfshandschriften oder aus Bösartigkeit. Oder aus allem zusammen.

Wie aussichtsreich ist ein solches Unternehmen, wenn es sich finanziell selbst tragen müsste (und wenn statt dessen andere, ohne Förderung absolut chancenlose, vielleicht auch überschaubarere Projekte finanziert werden könnten)?

Hierzu fällt mir nichts mehr ein. Oder vielleicht doch: Wie aussichtsreich wäre Philologie überhaupt, wenn sie sich finanziell selbst tragen müßte? Ein Staatswesen freilich, das nicht im völlig ahistorischen Vakuum vor sich hindümpeln will, wird sich den ›Luxus‹ editorischer Grundlagenforschung, und dauere sie auch, wohl leisten müssen. Es paßt nicht alles zwischen zwei events.

Roland Reuß, 27.10.2006