edition TEXT 5
René Schickele
Die blauen Hefte 1932/33

Hrsg. von Annemarie Post-Martens
Faksimile-Edition mit textgenetischer Transkription und Kommentar. 520 Seiten, 2 Bde. im Schuber

René Schickele -- Die blauen Hefte

… Die Tagebücher René Schickeles aus den Jahren 1932/33 […] nehmen nicht nur für die Deutung des Spätwerks eine Schlüsselposition ein, sondern stellen zugleich ein zeitgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges dar. Schickele selbst nennt sie – nach ihrem äußeren Erscheinungsbild – die »Blauen Hefte« und zählt die vier (jetzt im Marbacher Nachlaß verwahrten) Hefte durch mit den römischen Ziffern I bis IV. Die Anlage der Hefte selbst wie auch die mehrfachen Überarbeitungsschichten innerhalb der Handschrift verweisen darauf, daß der Autor in diesen Texten mehr sah als nur persönliche Aufzeichnungen. Die (teilweise) Beschriftung mit Schreibmaschine, die eingeklebten Zeitungsausschnitte, die Art der Heraushebung von Überschriften und nicht zuletzt die vielfachen Änderungen, Unterstreichungen und Ergänzungen legen den Schluß nahe, daß Schickele diese Hefte von vornherein im Bewußtsein einer späteren Veröffentlichung anlegte. Nicht zuletzt korrespondiert der Titel »Blaue Hefte«, den er sogleich in dieser Pluralform auf das Titelblatt seines ersten so bezeichneten Tagebuchs setzt, zweifellos nicht zufällig mit dem Titel der von ihm so engagiert geleiteten »Weißen Blätter«. Die »Blauen Hefte« sind demnach mehr als die bloße Bezeichnung des Schreibmaterials; sie sind Programm, das die Konzeption des poetisch-politischen Journalismus aus der Zeit des Ersten Weltkriegs bewußt wieder aufgreift. Als kritischer Beobachter und zugleich als in höchstem Grade selbst Betroffener dokumentiert und kommentiert Schickele die Vorgänge in Deutschland, die zur Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 führten und die am Beispiel des Schicksals von Juden und mißliebigen Intellektuellen zeigen, wie die Nationalsozialisten nach errungener Herrschaft ihre Macht aus-üben. Die vier »Blauen Hefte« – mit ihren Dokumentationen der zeitgeschichtlich so folgenschweren Ereignisse und mit den Kommentaren eines nicht nur im Sprachlichen, sondern auch im Politischen höchst sensibel registrierenden Zeit-Analytikers – strahlen einen fast unheimlichen Hauch von Authentizität aus. Es ist zugleich die nachdenkende Auseinandersetzung mit dem auf diesen Umbruch reagierenden Umfeld, die sich in die hier versammelten Aufzeichnungen einschreibt. Und nicht zuletzt halten diese Tagebücher das geradezu verzweifelte Bemühen des Autors Schickele fest, angesichts dieser Ereignisse als Schriftsteller doch noch zu bestehen. Erst vor dem Hintergrund dieser Tagebücher wird man die Romane und Schriften des Elsässers, die nach dem 30. Januar 1933 entstanden, als höchst politische Äußerungen und Bekenntnisse des in die Provence übergesiedelten Emigranten verstehen können.

Schickele ist meines Wissens der erste, der deshalb vor dem Nationalsozialismus warnte, weil er die systematische Vernichtung von Menschen, die ›Ausrottung‹ der Juden, als logische Konsequenz dieses Denkens begriff. »Nach wie vor werden jedoch die Juden die Prügelknaben abgeben, und das teuflische Spiel kann nicht gut anders enden als mit der Ausrottung der Juden oder dem Zusammenbruch des Hakenkreuzes.« (Aufzeichnung vom 16.4.1933, BH III, 16r) Das Aufgreifen des latent bestehenden Antisemitismus durch die Nationalsozialisten und dessen Verschmelzung mit der Angst vor dem ›Bolschewismus‹ als dem die Nation bedrohenden Bösen schlechthin – in Hitlers Rede von der ›bolschewistisch-jüdischen Verschwörung‹ zum Schlagwort erhoben, ergibt es wie in einer mathematischen Rechnung den größten gemeinsamen Nenner, unter dem die neuen Machthaber das ›deutsche Volk‹ – ›national‹ und ›sozial‹ – zu sammeln suchen. Schickele sieht hier die Ursprünge der pervertierten ›Ethik‹ des Hitler-Deutschlands: »Der Antisemitismus ist bei den Nazis das sittliche Organ«, notiert er am 6. April 1933 in sein drittes »Blaues Heft« (BH III, 10v).…

Aus der Einleitung von Annemarie Post-Martens

Für Ihre Publikation erhielt Annemarie Post-Martens am 19.3.2003 den »Mnemosyne«-Preis.