Helmut
Sembdner, Kleists Kriegslyrik in unbekannten Fassungen, in: ders., In Sachen
Kleist. Beiträge zur Forschung. 3., verm. Aufl. (München, Wien: Hanser 1994), 88-98
Germania an ihre Kinder, Kriegslied der
Deutschen
KLEISTS KRIEGSLYRIK IN
UNBEKANNTEN FASSUNGEN
I
Germania an ihre Kinder.
Die des Maines Regionen,
Die der Elbe heitre Aun,
Die den Donaustrom bewohnen,
Die das Oderthal bebaun,
5 Aus des Rheines Traubensitzen,
Von dem duftgen Mittelmeer,
Von der Alpen Riesenspitzen,
Von der Ost- und Nordsee her!
Horchet durch die Nacht, ihr Brüder,
Welcher Donner ruft hernieder?
10 Wachst du auf, Germania?
Ist der Tag der Rache da?
Deutsche, süßer Kinder Reigen,
Die mit Schmerz und Lust geküßt,
15 In den Schooß mir flatternd steigen,
Die mein Mutterarm umschließt!
Meines Busens Schutz und Schirmer,
Unbesiegtes Marsenblut,
Enkel der Kohortenstürmer,
Römer Ueberwinderbrut.
20 Zu den Waffen! zu den Waffen!
Was die Hände blindlings raffen,
Mit der Keule, mit dem Stab
Stürmt ins Thal die Schlacht hinab!
25 Wenn auf grauen Felsenhöhen,
Bei des Frühlings süßen Küssen,
Siedend auf die Gletscher gehen,
Ihrem Felsenbett entrissen
Katarakte stürzen nieder,
30 Fels und Wald folgt ihre Bahn,
Das Gebirg hallt donnernd wieder,
Fluren sind ein Ocean!
So verlaßt, voran der Kaiser,
Eure Hütten, eure Häuser,
35 Schäumt ein uferloses Meer
Ueber diese Feinde her!
Der Gewerbsmann, der den Hügeln
Mit der Fracht entgegenzeucht,
Der Gelehrte, der auf Flügeln
40 Der Gestirne Raum erreicht;
Schweißbedeckt das Heer der Schnitter,
Das die Fluren niedermäht,
Und von seinem Fels der Ritter,
Der, sein Cherub, auf ihm steht.
45 Wer in tiefgefühlten Wunden
Jenen fremden Hohn empfunden,
Brüder, jeder deutsche Mann
Schließ sich unsern Reihen an!
Alle Triften, alle Städte
50 Färbt mit ihren Knochen weiß.
Welchen Rab und Fuchs verschmähte,
Gebet ihn den Fischen preis!
Dämmt den Rhein mit ihren Leichen,
Laßt, gestaucht durch ihr Gebein,
55 Schäumend um die Pfalz ihn weichen,
Und ihn dann die Grenze sein.
Eine Treibjad [!], wie wenn Schützen
Auf der Spur dem Wolfe sitzen,
Schlagt ihn todt! das Weltgericht
60 Fragt euch nach der Ursach nicht!
Nicht die Flur ists, die zertreten
Unter ihren Rossen sinkt,
Nicht der Mond, der in den Städten
Aus den öden Fenstern blinkt;
65 Nicht das Weib, das mit Gewimmer
Ihrem Todeskuß erliegt,
Und zum Lohn beim Morgenschimmer
Auf den Schutt der Vorstadt fliegt,
Euern Schlachttrank laßt euch schenken.
70 Wenige, die dessen Denken.
Höherm, als der Erde Gut,
Schwillt die Sehne, flammt das Blut.
<89:>
Rettung vor dem Joch der Knechte,
Das aus Eisenerz geprägt,
75 Eines Höllensohnes Rechte
Ueber euren Nacken legt!
Schutz den Tempeln und Verehrung,
Unsrer Fürsten heilgem Blut
Unterwerfung! und Verheerung,
80 Gift und Dolch der Afterbrut!
Frei auf deutschem Boden walten
Laßt uns nach dem Brauch des Alten;
Seines Segens selbst sich freun,
Oder unser Grab ihn sein.
Diese bislang unbekannte Fassung von Kleists Germania-Ode findet sich in einer etwas
seltsamen Anthologie, die Ludwig Karrig, ein sonst literarisch nicht weiter
hervorgetretener Mann, im Jahr 1834 in Berlin herauszugeben versuchte. Mit ihr wollte er
allen Deutschen ein Buch in die Hand geben, aus welchem sie in stufenmäßiger
Entwickelung das Schöne und Erhabene, was die Heroen unserer Literatur geleistet,
allmälig kennen und in sich aufnehmen sollten. Zu dem allmählichen Kennenlernen
gehörte die Verbreitung dieses Nationalwerks in Form einer Zeitschrift, die
zweimal wöchentlich unter dem Titel Geist der Literatur im Selbstverlag
herauskam. Die einzelnen Blätter im Umfang eines Quartbogens enthielten neben
mittelalterlichen Texten wahllos kleine und große, ältere und neuere Schriftsteller in
bunter Mischung, von den neueren u. a. Chamisso, Eichendorff, Fouqué, Novalis, Immermann,
Jean Paul, Schwab, Tieck und Uhland. Allerdings scheint das recht dilettantisch angelegte
Unternehmen nicht über die 25 Nummern des ersten Quartals hinausgelangt zu sein, die als
Band 1 zusammengefaßt und mit einem Porträt Tiedges geschmückt wurden. Unter den knapp
160 Abonnenten dieses Zeitschriften-Unikums befanden sich Kaufleute, Offiziere,
Schulmänner, Gymnasiasten sowie einige bekannte Berliner Konditoren und Gastwirte, die
das Blatt vermutlich für ihre Gäste auslegen wollten. Berühmtester Subskribent war der
in Berlin lebende Dramatiker Ernst Raupach, der auch dem Herausgeber eine Szene aus seinem
bereits aufgeführten, aber noch ungedruckten Trauerspiel Tassos Tod zum
Abdruck in Blatt 2 und 3, treu nach dem Manuskript, zur Verfügung
stellte.
Auch die
Kleistsche Ode war Karrig im Manuskript zugekommen, was schon daraus hervorgeht, daß er
nicht ihren Verfasser weiß. Das Gedicht war bereits 1821 durch Tieck in Kleists
Hinterlassene Schriften und 1826 in die Gesammelten Schriften
aufgenommen worden und wanderte von dort in andere Anthologien wie O. F. Gruppes
Lyrisches Schatzkästlein der Deutschen, Berlin 1836, oder in Hermann
Marggraffs Sammlung Politische Gedichte aus Deutschlands Notzeit, Leipzig
1846. Karrig indessen weiß von Tiecks Veröffentlichung nichts, hält vielmehr Ewald
Christian von Kleist für den Verfasser, dessen Biographie er skizziert, um dann
fortzufahren: Wir geben hier folgendes Gedicht von ihm, welches für alle Zeiten
paßt, wenn ein Feind die Grenzen stürmt.
Heinrich von
Kleist hatte zu Lebzeiten die Germania-Ode wie überhaupt seine Kriegslyrik in zahlreichen
Abschriften an Freunde und Bekannte verteilt. <90:> Heinrich von Collin, Ferdinand
Hartmann, Ernst von Pfuel, Varnhagen, Fouqué, Marie von Kleist besaßen nachweislich
Niederschriften davon, die sie wiederum anderen mitteilten.\1\ So schickt Marie von Kleist im September 1811 zwei Kriegslieder, die
Kleist teuer zu stehen kommen könnten, dem König Friedrich Wilhelm III.; im
gleichen Sommer trägt Tiedge die Ode in Teplitz auf einer Teegesellschaft des Fürsten
Ligne vor, und Fouqué spricht später von den herrlichen Liedern, die natürlich
damals nur in Manuskript umhergehn konnten.\2\
Von den damals vorhandenen eigenhändigen Manuskripten sind vier auf uns gekommen, weitere
können wir aus anderweitigen Überlieferungen in Druck oder handschriftlichen Kopien
erschließen. Die einzelnen Texte variieren in vielfacher Weise, sei es, daß Kleist die
Verse stufenweise weiterbildete und zu vervollkommnen suchte, sei es, daß er sie von Fall
zu Fall aus dem Gedächtnis niederschrieb, wobei sich einzelne Wort- und
Interpunktions-Änderungen oder auch unbeabsichtigte Rückgriffe auf bereits überholte
Fassungen ergeben konnten; auch mögen andere Varianten vom Kopisten oder Setzer
veranlaßt worden sein. Dieser Umstand ist es, der die verschiedentlich versuchte
genetische Aufstellung der ermittelten Fassungen zum Scheitern verurteilt und eine
befriedigende Darstellung der Lesarten unmöglich macht.\3\
Bei dem von Karrig
mitgeteilten Text, der zweifellos auf einer solchen handschriftlichen Überlieferung
beruht, haben wir es mit einem besonders wichtigen Zeugen zu tun. Der Text steht jener
Fassung nahe, die 1813 in der Zeitschrift Rußlands Triumph oder das erwachte
Europa erschienen war,\4\ doch sind die in
beiden Fällen zugrundeliegenden Handschriften keineswegs identisch.
Aufgrund
eingehender Untersuchungen lassen sich die elf handschriftlichen oder gedruckten Zeugen,
über die wir inzwischen verfügen,\5\ auf folgende
sieben Stufen verteilen. Die in meiner Kleist-Ausgabe verwendeten Bezeichnungen a bis g
wurden beibehalten, doch war die Stufenfolge von b und c zu vertauschen; erschlossene
Kleist-Handschriften (= h) wurden dabei in Klammern gesetzt.
a) ha = Sammelhandschrift, vielleicht identisch mit der am 20. April 1809 an Collin
gesandten; zweifellos älteste Fassung (h2 bei Erich Schmidt)
sechsstrophig; Zeile 1: Maines Regionen
c) (hc1) = Liederbuch der hanseatischen Legion gewidmet, Hamburg 1813
(hc2) = handschr. Kopie in einer Ewald-von-Kleist-Ausgabe,
datiert: 1813, 24. März
Untereinander kleine Interpunktions-Unterschiede, wobei (hc2)
sich (hb1) nähert.
sechsstrophig; Zeile 1: Maines Regionen
b) (hb1) = Separatdruck, hrsg. von Ernst von Pfuel (Berlin, März 1813)
(hb2) = Deutsche Blätter, Leipzig, 24. Oktober 1813
(hb3) = Ergießungen Deutschen Gefühles in Gesängen und Liedern
bey den Ereignissen dieser Zeit. Heidelberg 1814
(hb3) weist, außer zwei Druckfehlern, in Zeile 27, 34, 54, 78
einige Varianten auf\5a\; <91:> sonst
untereinander nur geringfügige Abweichungen, wobei (hb1) näher an Stufe c
verbleibt.
sechsstrophig; Zeile 1: Brockens Felsregionen
d) (hd1) = Rußlands Triumph oder das erwachte Europa, Heft 3 (Berlin,
März 1813)
(hd2) = Geist der deutschen Literatur, hrsg. von Ludwig Karrig,
Bd. 1, Berlin 1834; siehe vorliegende Untersuchung.
siebenstrophig; Zeile 1: Maines Regionen
e) he = Doppelquart mit Tiecks Beglaubigungsvermerk; danach Tiecks Abdruck in den
Kleist-Ausgaben von 1821 und 1826 (h3 bei Erich Schmidt)
siebenstrophig; Zeile 1: Maines Regionen
f) hf = Doppelquart aus Marie von Kleists Besitz; 1909 von Rahmer, faksimiliert 1918 von
Minde-Pouet veröffentlicht.
siebenstrophig; Zeile 1: Brockens Felsregionen
g) hg = Doppelquart, heute im Besitz des Instituts für Geschichte der Stadt Dresden (h1
bei Erich Schmidt)
siebenstrophig; Zeile 1: Brockens Regionen
In einem Stemma ließen sich die Verbindungen der einzelnen Stufen wie folgt darstellen:
<Skizze>
<92:> Von den sieben Stufen ist d, der der neuentdeckte Druck zugehört, am
interessantesten, da sie die Elemente fast aller anderen Stufen vereinigt: Aus a behält
sie die Zeilen 33/34 bei; mit b und c teilt sie die Verse 5, 7, 9, 10, 13, 30, 33, 70 und
72; mit e besitzt sie die in b/c noch fehlende vierte Strophe (Zeile 37/48) sowie die
Neufassung der Verse 81/83; auf f und g weist eine kleine Variante (46 hd1: Dieser
statt Jener) sowie Zeile 81 (Boden statt Grunde) hin.
Daneben aber sind
beiden Texten von d einige sehr wesentliche Varianten gemein, von denen bislang
zweifelhaft war, ob sie auf Kleist zurückgehen oder von anderer Seite veranlaßt wurden.
Nunmehr erlaubt der Vergleich der beiden voneinander unabhängigen Fassungen die
Nachprüfung ihrer Authentizität und auch die Berichtigung einzelner korrumpierter
Stellen. Es ergibt sich dabei, daß der Druck in Rußlands Triumph
verhältnismäßig korrekt ist, wenn man von der für Kleist ungebräuchlichen Schreibung
(Maynes, Marsen Blut, Römer Ueberwinder Brut usw.) absieht; allerdings
weist er in Zeile 7 und 48 zwei Druckfehler (Riesensitzen, unserm) und in Zeile
77/78 sinnentstellende Interpunktion auf. Dagegen enthält der Druck in Geist der
Literatur eine Reihe von eindeutigen Druckversehen, zu denen ich folgende Stellen
rechne: 3 Donaustrom [statt Donau Strand] 15 flatternd [statt kletternd]
30 ihre Bahn [statt ihrer Bahn] 46 Jenen fremden Hohn
[statt Jener Fremden Hohn] 57 Treibjad 69 Schlachttrank [statt Schlachtraub]
82 nach dem Brauch des Alten [statt der Alten] 83 sich freun [statt uns;
wohl auf den Alten bezogen!].
Von einzelnen
Varianten in hd1 und hd2 gegenüber den sonst bekannten Fassungen
führe ich an:
11 hd1,2 Wachst du auf, Germania? (statt Stehst du auf...)
24 hd1 Eilt (hd2 Stürmt) ins Thal der (hd2
die) Schlacht hinab (statt Strömt
)
29 hd1 Cataracte (hd2 Katarakte) stürmen (hd2
stürzen) nieder (statt Cataracten/Katarakten stürmen nieder)
36 hd2 Feinde (statt Franken)
40 hd1,2 Der Gestirne Raum (statt Saum)
41 hd2 das Heer (statt Volk) der Schnitter
43 hd1,2 Und von seinem Fels der Ritter (statt Und, vom Fels
herab,...)
45 hd1 Wer in nie gefühlten (hd2 tiefgefühlten) Wunden
(statt unzählbaren/unheilbaren)
46 hd1 Dieser Franken (hd2 Jenen fremden) Hohn
(statt Jener/Dieser Fremden Hohn)
47 hd1,2 jeder deutsche Mann (statt wer ein deutscher Mann)
48 hd1 Schließe unserm Reihn sich (statt Schließ sich
unsern Reihen) an (statt Schließe diesem Kampf sich an)
49/51 hd1,2 Städte / verschmähte (statt Stätten / verschmähten)
54 hd1,2 gestaucht (statt gestäuft / gestämmt / gestaut)
60 hd1 Fragt Euch um die (hd2 euch nach der) Ursach
nicht (statt Fragt euch nach den Gründen nicht)
76 hd1 Ueber unsre (hd2 euren) Nacken (statt unsern)
Einige Stellen stellen poetische Verbesserungen gegenüber den anderen Fassungen dar, so
der Reim Städte / verschmähte statt Stätten / verschmähten, die tief-
<93:> gefühlten statt der unzählbaren Wunden, um die Ursach
statt nach den Gründen, die Personifizierung der Schlacht in Zeile 24 von
hd2; der Gestirne Raum [statt Saum] weist bereits auf das
Gebiet der Sterne in f und g hin, während Zeile 11 Wachst du auf, Germania?
für uns peinliche Reminiszenzen an den nationalsozialistischen Kampfruf Deutschland
erwache! enthält, ohne daß dessen Urheber, Dietrich Eckart, jene Kleistsche
Variante gekannt haben dürfte.\5b\ Der Vergleich mit hd2
in Zeile 48 zeigt, daß in hd1 natürlich nicht von einem durchaus unpassenden
Reihn = Reigen die Rede war, sondern von dem Dativ Plural unsern
Reihn.
Interessanter noch
als diese einzelnen Lesarten ist die Neugestaltung ganzer Strophen durch scheinbar
geringfügige Umstellungen, wie wie sie in den Zeilen 25/28 und 77/80 beobachten können.
Der Anfang der dritten Strophe lautete in b und c, und ähnlich in den anderen Fassungen:
Wie der Schnee aus
Felsenrissen,
Wenn auf grauen
Alpenhöhn
Von des Frühlings
heißen Küssen
Siedend auf die
Gletscher gehn,
Daraus wird nun in hd2:
Wenn auf grauen
Felsenhöhen, (hd1 Alpenhöhen)
Bei des Frühlings
süßen Küssen (hd1 Von des Frühlings heißen Küssen,)
Siedend auf die
Gletscher gehen,
Ihrem Felsenbett
entrissen,
Unter Verzicht auf
den belanglosen Schnee konzentriert sich das Bild ganz auf die
Gletscher. Die Strophe steigert sich in Tempo und Tonhöhe von dem neutralen
Grau der ersten Zeile über die drei glühenden ü und das gezogene
ie von siedend zum schlagartig betonten auf (in hf und
hg von Kleist unterstrichen!) mit den vier starken e von Gletscher
gehen, um dann in der letzten Zeile die in erhöhter Tonlage und Steigerung
gesprochenen i- und e-Silben folgen zu lassen. Durch einfachste
Mittel wird so eine erhebliche poetische Intensivierung erreicht.\6\
Eine ähnliche
Neugestaltung durch einfache Umstellung erfahren die Zeilen 77/80, die in den übrigen
Fassungen lauten:
Schutz den Tempeln
vor Verheerung,
Unsrer Fürsten
heilgem Blut
Unterwerfung und
Verehrung,
Gift und Dolch der
Afterbrut!
Durch Vertauschung
der Reimworte Verheerung und Verehrung und kleine
Interpunktionsänderungen gewinnt die Strophe einen neuen Sinn, der allerdings durch die
fehlerhafte Interpunktion in Rußlands Triumph (Komma nach Tempeln
statt nach Verehrung; Semikolon nach Blut)\7\
bisher korrumpiert war: <94:>
Schutz den Tempeln
und Verehrung,
Unsrer Fürsten
heilgem Blut
Unterwerfung! und
Verheerung,
Gift und Dolch der
Afterbrut!
Die erste Zeile
atmet jetzt mit der Verehrung, die den Tempeln (und nicht den Fürsten!) zusteht,
gemessene Ruhe. Die zweite Zeile drängt zu dem Wort Unterwerfung, hinter dem
das Ausrufezeichen in Zeile drei eine gewichtige Pause fordert, bevor dann die drei
Keulenschläge Verheerung, Gift und Dolch die verächtliche
Afterbrut niederstrecken! Auch hier wieder eine wesentliche Verbesserung durch
eine neue rhythmische Gliederung und Steigerung! So erlaubt die Untersuchung gerade dieser
neuentdeckten Fassung der Gemania-Ode besondere Einblicke in Kleists Schaffensweise.
- II
- Zottelbär und Panthertier
Hat der Pfeil bezwungen.
Nur für Geld im Drahtrevier
Sieht man ihre Jungen.
Auf den
Fuchs, so viel ich weiß,
Ist ein Preis gesetzet.
Wo er nur sich hungerheiß
Naht, wird er gehetzet!
Ottern giebt
es gar nicht mehr,
Schlangen und dergleichen,
Und der Drachen graues Heer
Mit geschwollnen Bäuchen.
Nur der
Franzmann zeigt sich noch
In dem deutschen Reiche.
Brüder, nehmt die Keulen doch,
Daß auch der entweiche!
Diese um zwei Strophen verkürzte Fassung des Kriegslieds der Deutschen teilte
Friedrich de la Motte Fouqué in Nr. 59 der Zeitung für den deutschen Adel
vom 24. Juli 1841 mit. Fouqué hatte für das von ihm redigierte Blatt einen Auszug
aus der Schrift des Grafen Corberon De la réaction gouvernementale en Hanovre
angefertigt, in dem unter anderm von dem verderblichen Gezücht der Wild- und Raubgrafen
die Rede ist; diesen inzwischen in ihren Höhlen erschlagenen Raubtieren werden die
Raubvögel der Setembrisirer und Sansculotten des achtzehnten Jahrhunderts
gleichgesetzt, von welchen es heißt:
Auch an diese
Argen kam die Reihe, ins Grab zu sinken, und ihr Gebein modert unter den
Verwünschungen des sie überlebenden Geschlechts. Nicht heut zu Tag mehr trifft man jene
riesigen Ungeheuer an, jene furchtbaren Kraftgestalten voll Barbarei und Grausamkeit;
woran sich nun die Fußnote knüpft, mit der Kleists Gedicht eingeleitet wird:
Anm. des
Uebers. Möge hier die Mittheilung eines Liedes, durch meinen verewigten Freund
Heinrich von Kleist im Jahre 1809 gedichtet, Raum finden. Es ist ein verwandter Klang:
<95:>
Schon früher hatte Fouqué wiederholt Gedichte aus Kleists Nachlaß veröffentlicht, so
die Blankverse An die Königin Louise von Preußen und die
Jünglingsklage in der Zeitschrift Die Musen von 1812 und 1814
sowie Das letzte Lied im Frauentaschenbuch für das Jahr 1818; und
auch sonst nahm er jede Gelegenheit wahr, um an seinen verstorbenen Freund zu erinnern.\8\ Davon zeugt auch Nr. 46 des gleichen
Jahrgangs der Adelszeitung, vom 9. Juni 1841, wo Fouqué ein Kleist-Zitat zur
Einleitung einer Polemik gegen die Allgemeine Leipziger Zeitung benutzt:
In Euerm Kopf liegt Wissen
Und Irrthum
wunderlich gemengt beisammen.
Mit jedem Schnitte
gebt Ihr uns von Beiden.
Diese Worte, die der verewigte Heinrich von Kleist in seinem humoristischen Lustspiele
Der zerbrochene Krug den Gerichtsrath zu dem verwunderlichen Dorfrichter Adam
sprechen läßt, passen, gleich jedem echten Dichterwort, auf mannigfache Erscheinungen in
der Welt. So auch auf zahllos viele politische Aufsätze unserer öffentlichen
Blätter
Interessanterweise ist Fouqués Zitat nicht wörtlich; vielmehr lauten die betreffenden
Verse 1060/63 in der Buchausgabe von 1811:
In eurem Kopf
liegt Wissenschaft und Irrthum
Geknetet, innig,
wie ein Teig, zusammen;
Mit jedem Schnitte
gebt ihr mir von beidem.
Kleists
echtes Dichterwort muß Fouqué so gut gefallen haben, daß er es nicht
nachzuschlagen brauchte. Wo ihn das Gedächtnis täuschte, half ihm seine eigene
sündliche Gewandtheit im Versemachen, von der Jacob Grimm einmal spricht, zu
einer geschickten Variante. Jedenfalls ist kaum anzunehmen, daß Fouqué auf ein
unbekanntes Kleist-Manuskript zurückgreift (statt gemengt müßte es sonst
nach Kleists Gebrauch wohl gemischt heißen!), zumal er nachweislich die
Buchausgabe besaß, die Kleist ihm 1811 geschenkt hatte.
Anders liegt es
allerdings bei Fouqués Mitteilung des Kriegslieds, das er im Manuskript besaß. Obwohl es
bereits von Tieck in Kleists Nachgelassene und Gesammelte Schriften von 1821 und 1826
aufgenommen worden war, war Fouqué offenbar überzeugt, ein Ineditum mitteilen zu
können, wobie er sich zweifellos eng an das Original hielt.
Wir kennen bisher
das Kriegslied der Deutschen aus drei wenig differierenden Kleistschen
Handschriften und einer auf sie zurückgehenden Kopie sowie aus sechs frühen Drucken der
Jahre 1813 bis 1818, von denen einer ein bloßer Nachdruck ist. Die Texte weichen dabei
nicht so stark voneinander ab wie bei der Germania-Ode; doch lassen sich die vorhandenen
und die von mir erschlossenen (eingeklammerten) Handschriften nach folgenden drei Gruppen
ordnen: <96:>
a) ha1 = Handschrift, früher im Besitz der Preuß. Staatsbibl. Berlin (h1
bei Erich Schmidt)
ha2 = Sammelhandschrift (unter ha bei der Germania-Ode
aufgeführt) (h2 bei Erich Schmidt)
ha3 = Handschrift im Besitz des Kestner-Museums Hannover (h3 bei
Erich Schmidt)
k = Kopie (von ha2 oder ha3) in einem Sammelband der
Sammlung Tieck; danach Tiecks Abdruck in den Kleist-Ausgaben von 1821 und 1826 (h4
bei Erich Schmidt)
(ha4) = Fouqués Mitteilung in Zeitung f. d. dt. Adel,
24. VII. 1841
ha1 unterscheidet sich von ha2 und ha3 in Zeile 4 uns
die Jungen (statt noch die) und 23 die Büchsen (statt die Keule);
in Zeile 21 ist der Franzmann durch drei Punkte ersetzt; mit Gruppe b und c hat ha1
die Zeile 3 und mit Gruppe b die Zeile 14 gemeinsam.
b) (hb1) = Rußlands Triumph oder das erwachte Europa, Heft 3 (Berlin,
März 1813) (unter (hd1) bei der Germania-Ode aufgeführt)
(hb2) = Rheinischer Merkur, 15. April 1815
(hb3) = Drei Abschiedslieder der Hanseatischen Legion und der
freiwilligen Jäger bei ihrem Auszuge gegen die Franzosen im Jahr 1815. Hamburg, im Juni
1815
Besonderheiten gegenüber Gruppe a und c: 2 Hat der Feind bezwungen 7 zungenheiß
19 Nicht der Drachen
c) (hc1) = Liederbuch der Hanseatischen Legion gewidmet, Hamburg 1813 (unter
(hc1) bei der Germania-Ode aufgeführt)
davon Abdruck in: Deutsche Lieder für Jung und Alt, Berlin 1818
(hc2) = Vaterländische gesellige Lieder nach bekannten Weisen.
Den freiwilligen Jägern geweiht. Hamburg im November 1815
Besonderheiten gegenüber Gruppe a und b: 2 Hat man längst bezwungen 7 Naht er
sich (hc2 wo er naht), die Zunge heiß, 8 Gleich wird
er gehetzet. 9 Reineke der rothe 10 unter Erden (hc2 in
der Erden) 13 horsten 15 der Waidmann (hc2 der Jäger)
nie 16 wird drücken 19 Noch der Drachen 21 hc2 lüstert
noch 22 hc2 Nach dem 24 Daß auch dieser
Fouqués Text steht der Gruppe a, insbesondere ha2 und ha3 nahe;
doch hat er mit Gruppe b und c in Zeile 4 ihre Jungen (statt uns die oder noch
die Jungen) gemeinsam, sowie mit Gruppe c in Zeile 24 das Wörtchen auch (c auch
dieser a und b er gleichfalls). Gerade diese letzte Zeile Daß auch der
entweiche zeigt eine deutliche Verbesserung gegenüber den bisher bekannten
Fassungen, wie auch die Sperrung des zu betonenden Wortes Kleists Unterstreichungen in den
beiden letzten Handschriften der Germania-Ode entspricht.
Einen stufenweisen
Fortschritt zeigt die Zeile 3 mit der Metapher für Käfig: ha1 Spalier,
ha2,3, k Drathspalier (ha4) [d. i. Fouqués Fassung] Drahtrevier.
Ebenso Zeile 23: ha1 die Büchsen ha2,3 k die Keule (ha4)
die Keulen. Kleinere Varianten in (ha4): 4 Sieht man
(statt Zeigt man) 7 Wo er nur sich (statt Wo er immer) sowie die
Vertauschung von Schlangen und Ottern in Zeile 17 und 18. Dagegen stellt 19 graues
Heer (statt Gräuelheer) offenbar eine Falschlesung Fouqués dar.
Sehr
wahrscheinlich geht die Verkürzung des Liedes um die dritte und vierte Strophe, die dem
Gedicht nicht schlecht bekommt, auf Kleist zurück. Auch die Germania-Ode existiert in
kürzerer und längerer Form; zudem ist kaum anzu- <97:> nehmen, daß Fouqué die
längere Fassung des Liedes, wenn er in ihrem Besitz gewesen wäre, seinen Lesern
vorenthalten hätte, zumal gerade die vierte Strophe mit Aar und Geier eine
zusätzliche Parallele zu Graf Corberons Raubvögeln hätte bilden können.
Nicht zufällig
fehlt übrigens in Fouqués Mitteilung die Überschrift des Kriegslieds der
Deutschen. Sie war in der ihm von Kleist geschenkten Handschrift nicht vorhanden,
wie aus Fouqués Brief an Varnhagen vom 6. Januar 1811\9\ hervorgeht:
Kleists herrliches
Lied: Zottelbär und Panthertier kenne ich, d. h. ich liebe es von ganzem
Herzen. Wer könnte anders?
ANMERKUNGEN
Vorstehende Untersuchungen sind bisher unveröffentlicht.
\1\ Kleist an Collin, 20. April 1809; Lebensspuren,
3. Aufl. (dtv), Nr. 341, 459a, 459b.
\2\ Lebensspuren Nr. 507a, 510b, 516.
\3\ s. Klaus Kanzog, Prolegomena zu einer
historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists, München 1970, S. 150-168.
Obwohl Kanzog nur die sieben in meiner Kleist-Ausgabe angeführten Texte heranzieht, wird
der von ihm vorgeschlagene Lesarten-Apparat (horizontaler Paralleldruck von vier
Fassungen, dazu vertikale Übersicht drei weiterer Fassungen) bereits so kompliziert, daß
eine sinnvolle Benutzung fragwürdig wird, abgesehen von den schwierigen drucktechnischen
Problemen. Bei dem zweifellos mit großer Sorgfalt hergestellten Apparat-Modell lassen
sich allein bei der Germania-Ode bereits 16 Fehler ausmachen.
\4\ Abdruck erstmalig in meiner Kleist-Ausgabe,
Bd. 1, S. 713-716 (4. Fassung).
\5\ vgl. Eva Rothe/Helmut Sembdner, Die
Kleist-Handschriften und ihr Verbleib. Jahrbuch d. Dt. Schillerges. 1964, S.
324-343 Helmut Sembdner, Kleist-Bibliographie 1803-1862, Stuttgart 1966 (Der
dort unter Nr. 19 erwähnte weitere Druck der Germania-Ode in Passows u. a. Sammlung
Vaterländische Gedichte vom Jahr Achtzehnhundertdreyzehn, Königsberg 1813,
konnte nicht herangezogen werden, da das Werk z. Z. nicht nachweisbar ist.)
\6\ Anläßlich eines Münchner Seminars von Klaus
Kanzog zu Fragen der Textkritik hat ein Teilnehmer versucht, die Eigenheiten des Textes in
Rußlands Triumph sämtlich auf Eingriffe des Redakteurs oder Setzers
zurückzuführen, wie sie sich am deutlichsten in den genannten vier Zeilen bemerkbar
machten. Wenn er nun annimmt, der Setzer habe die erste Zeile Wie der Schnee aus
Felsenrissen vergessen und beim Bemerken des Versäumnisses in der vierten Zeile
einfach den Vers Ihrem Felsenbett entrissen dazugesetzt, so dürfte damit dem
poetischen Geschick des Setzers etwas viel zugemutet werden; auch läßt sich eine
vergessene Zeile ja ohne weiteres nachträglich einschieben, ohne daß der Setzer zu
eigenmächtiger Neudichtung gezwungen würde. Die angeblich redaktionellen
Aktualisierungen in Zeile 15, 22 (24?), 46, 47, 48 und 69 (?), von denen der <98:>
Seminarteilnehmer (und mit ihm Kanzog, S. 166) spricht, kann ich nicht erkennen. Im
übrigen werden all diese Spekulationen durch das Auftauchen des Textes von hd2
nunmehr widerlegt. (Die erwähnte Seminar-Arbeit von Bernhard Schnell ist als
Archiv-Exemplar in der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin einsehbar.)
\7\ In meiner Kleist-Ausgabe wurde die
Interpunktions-Verderbnis durch Heraufsetzen des Semikolons nach Zeile 77 beseitigt.
\8\ vgl. Sembdner, Fouqués unbekanntes Wirken für
Heinrich von Kleist. Jahrbuch der Dt. Schillerges. 1958 (sowie in vorliegendem
Sammelband).
\9\ Lebensspuren Nr. 459b.
(Nachtrag 1984)
\5a\ [zu hb3:] 27 Von des heißen
Westwinds (statt: Von des Frühlings heißen)
34 Rings herab ein
Frühlingswetter (statt: im Frühlingswetter)
54 Laßt gestämmt
durch ihr Gebein (statt: gestaut)
78 Unsern Fürsten
Herz und Blut (statt: Unsrer Fürsten heilgem Blut)
\5b\ Wer kennt nicht seinen lyrischen
Auferweckungsruf: Germania, erwache!? schreibt Friedr. Gottl. Zimmermann
in den Dramaturgischen Blättern für Hamburg vom Februar 1821 (Nachruhm Nr.
265a) eine interessante Bemerkung, die zeigt, wie verbreitet auch diese
Fassung der Ode gewesen sein muß, die uns im Druck nur an entlegener Stelle überliefert
wurde.
(Nachtrag 1994)
Die vermutlich
früheste Fassung der Ode entdeckte H. F. Weiss in einer Kopie aus dem Nachlaß
des Baron Buol (Funde und Studien zu Heinrich von Kleist, Tübingen 1984,
S. 297-304): Sie stimmt weitgehend mit dem Text der Sammelhandschrift (ha)
überein, doch zeigen fünf Verse einige bisher nicht überlieferte Varianten, die der
gleiche Kopist später durch darüber geschriebene, uns bekannte Versionen ersetzte, die
auf eine zweite frühe Fassung deuten:
24 Strömt ins Schlachtenthal hinab (darüber: Thal der Schlacht)
37 (49) Alle Fluren, ihr Geliebten, (darüber: Plätze, Trift und Stätten)
39 (51) Wen die Füchse nicht zerstiebten, (darüber: Welchen Raab und Fuchs
verschmähten)
45 (57) Eine Jagd, wie wenn, mit Pfeilen (darüber: Eine Treibjagd, wie wenn Schützen)
46 (58) Schützen einen Wolf ereilen! (darüber: Auf der Spur dem Wolfe sitzen)
Die in Anm. 5
als nicht nachweisbar erwähnte Passowsche Sammlung Vaterländische Gedichte
von 1813 hat Weiss in The British Library, London, ausfindig gemacht (a. a. O.,
S. 302). Danach scheint der dortige Abdruck auf einer frühen Handschrift zu beruhen,
obwohl die Herausgeber als Druckorte Pfuels Separatdruck von 1813 (hb1) sowie
Rußlands Triumpf (hd1) anführen. Nach Weiss (a. a. O.,
S. 305) enthält die Sammlung auch Kleists Kriegslied für die deutschen
Jäger aus Rußlands Triumph.
Einen weiteren,
diesmal auf die Deutschen Blätter von 1813 (hb2) zurückgehenden
Nachdruck der Ode fand Weiss in Hermann, eine Zeitschrift von und für
Westfalen, 1. Febr. 1814.
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