Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil.
Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885])
(Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XLIII-XLVII
Schweiz, Frankreich, Königsberg
Nach drei Monaten sollte diese Reise auf das traurigste enden. Nachdem die beiden
Touristen meist zu Fuß die Schweiz durchwandert und Kleist auf dem Delosea-Inseli
eine kurze Ruhe zur Arbeit wiedergefunden\1\,
ging es wahrscheinlich über den Grimsel, die Furka und den Gotthardpaß
nach Italien. In Varese, zwischen Comer- und Langensee, wo er auf
einige Zeit Lohse sah, verlebte er einen der frohesten Tage seines Lebens. Mit
Werdecks\2\, Pfuel und Lohse
fuhr er zusammen nach Madonna del Monte, einem ehemaligen Kloster am
Fuße der Alpen. Kleist schreibt später über diesen Ausflug: War es diese
Gesellschaft und dieser Ort, dieser wunderschöne Ort, vielleicht
auch der Genuß der gewürzreichen Weine, und der noch gewürzreicheren Lüfte dieses
Landes: <XLIV:> ich weiß es nicht; aber Freude habe ich an diesem Tage
so lebhaft empfunden, daß mir diese Erscheinung noch jetzt, bei dem Kummer, der mir
zugleich damals fressend ans Herz nagte, ganz verwunderungswürdig ist. Von Mailand
ging es wieder nach der westlichen Schweiz zurück. In Genf brach
endlich die volle Verzweiflung aus, die der Unglückliche so lange gefürchtet hatte, und
in einem unheimlich ergreifenden Brief an seine Schwester verzichtete er feierlich auf
sein Ideal und seinen Beruf. Der Himmel weiß, meine theuerste Ulrike,
schreibt er aus Genf am 5. Oktober, wie gern ich einen Blutstropfen aus meinem
Herzen für jeden Buchstaben eines Briefes gäbe, der so anfangen könnte: ,mein Gedicht
ist fertig. Aber, Du weißt, wer nach dem Sprüchwort mehr thut, als er kann. Ich
habe nun ein Halbtausend hinter einander folgender Tage, die Nächte der meisten mit
eingerechnet, an den Versuch gesetzt, zu so vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie
herabzuringen: jetzt ruft mir unsere heilige Schutzgöttin zu, daß es genug sei. Sie
küßt mir gerührt den Schweiß von der Stirne und tröstet mich, ,wenn jeder ihrer
lieben Söhne nur ebenso viel thäte, so würde unserem Namen ein Platz in den Sternen
nicht fehlen. Und so sei es denn genug. Das Schicksal, das den Völkern jeden
Zuschuß zu ihrer Bildung zumißt, will, denke ich, die Kunst in diesem nördlichen
Himmelsstrich noch nicht reifen lassen
Ich trete von Einem zurück, der
noch nicht da ist, und beuge mich ein Jahrtausend voraus vor seinem Geiste. Denn in der
Reihe der menschlichen Erfindungen ist diejenige, die ich gedacht habe, unfehlbar ein
Glied, und es wächst irgendwo ein Stein schon für Den, der sie einst ausspricht.
Und so soll ich denn niemals zu Euch, meine theuersten Menschen zurückkehren? O,
niemals! Rede mir nicht zu. Wenn Du es thust, so kennst Du das gefährliche Ding nicht,
das man Ehrgeiz nennt. Ich kann jetzt darüber lachen, wenn ich mir einen Prätendenten
mit Ansprüchen unter einem Haufen von Menschen denke, die sein Geburtsrecht zur Krone
nicht anerkennen; aber die Folgen für ein empfindliches Gemüth, sie sind, ich schwöre
es Dir, nicht zu berechnen. Mich entsetzt die Vorstellung
Die Hölle
gab mir meine halben Talente; der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes oder gar keins.
In blinder Unruhe durchreiste er, wie von der Furie getrieben, Frankreich
von neuem in zwei Richtungen, zuerst über Genf und Lyon
nach Paris. Auf dem Wege war er sehr entschlossen, ohne große Wahl
zuzugreifen, wo sich etwas finden werde, aber im Innersten dachte er nur noch an den
Tod. Er forderte Pfuel abermals vergebens auf, mit ihm gemeinsam zu sterben. Seine Seele
verbitterte sich, wie es scheint, auch gegen den Freund. Er war an der Grenze des
Wahnsinns angekommen, und nach einem Streit über Sein und Nichtsein mit Pfuel, den ein
letzter Anfall von rasender Überhebung hervorgerufen hatte, eilte er verzweifelnd in
seine Wohnung, verbrannte den Guiskard und alle seine <XLV:> Papiere und
verschwand. Während Pfuel, von dem entsetzlichsten Verdacht ergriffen, ihn am anderen
Tage und wieder am Tage darauf in der Morgue unter den aufgefundenen Leichen suchte,
wanderte Kleist nach Norden, ohne Paß, zu Fuß, seinen Untergang suchend. In Boulogne
sur Mer rüstete man damals die unausgeführt gebliebene Expedition gegen England aus;
dorthin machte er sich auf den Weg, und von Saint Omer schrieb er am
26. Oktober 1803 an Ulrike folgenden Abschiedsgruß:
Meine theure Ulrike!
Was ich Dir schreiben werde, kann Dir vielleicht das Leben kosten; aber ich muß, ich
muß, ich muß es vollbringen. Ich habe in Paris mein Werk, so weit es fertig
war, durchlesen, verworfen und verbrannt, und nun ist es aus. Der Himmel versagt mir den
Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle
übrigen hin. Ich kann mich Deiner Freundschaft nicht würdig zeigen, ich kann
ohne diese Freundschaft doch nicht leben: ich stürze mich in den Tod. Sei ruhig, Du
Erhabene, ich werde den schönen Tod der Schlachten sterben. Ich habe die Hauptstadt
dieses Landes verlassen, ich bin an seine Nordküste gewandert, ich werde französische
Kriegsdienste nehmen, das Heer wird bald nach England hinüberrudern, unser Aller
Verderben lauert über dem Meere, ich frohlocke bei der Aussicht auf das unendlich
prächtige Grab. O Du Geliebte, Du wirst mein letzter Gedanke sein!
Doch der Lebensüberdrüssige
konnte sein wahnsinniges Vorhaben nicht vollführen. Schon unterwegs war er einem Haufen
Konskribierter begegnet und hatte ihnen den Vorschlag gemacht, für einen von ihnen als
gemeiner Soldat einzutreten, aber man wies ihn ab. Jetzt, nahe vor Boulogne, führte ihm
der Zufall einen Bekannten, einen französischen Stabsarzt, entgegen, der ihn verwundert
fragte, was er da zu thun habe. Kleist erzählte ihm, er laufe ohne Paß herum. Der
Franzose versicherte ihm, dann schwebe er in Gefahr, als Spion erschossen zu werden, und
nahm ihn unter seinen Schutz als seinen Bedienten mit nach Boulogne. Von hier aus schrieb
der Unglückliche, der von einem solchen Ausgang doch zurückbebte, an den preußischen
Gesandten in Paris, den Marquis Lucchesini, und bat um einen Paß, in einem
Briefe, der, wie die Abschiedsworte an Ulrike, seine innere Zerrüttung unzweideutig
verriet. Nach vier Tagen erhielt er den Paß, aber dieser war unmittelbar nach Potsdam
ausgestellt. So sah er sich gezwungen, nach Deutschland zurückzukehren.
Der Heimweg ging über Paris
und Mainz. Hier sank er endlich krank darnieder und hütete nahe an fünf
Monate abwechselnd das Bett oder das Zimmer. Er wurde durch den Freiherrn von
Wedekind, den trefflichen Arzt und Schriftsteller, behandelt und hergestellt. Am Rhein
soll er die Bekanntschaft von Karoline von Günderode\1\ gemacht <XLVI:> haben; auch wohnte er eine Weile in der Nähe
von Wiesbaden in ländlicher Stille bei einem Pfarrer, welcher sich am 3. April 1804
beim alten Wieland über seinen rätselvollen Gast erkundigte, den er durch Aufnahme in
dem Bureau eines Freundes auch geistig retten wollte. Hier spielte er ganz dieselbe Rolle,
wie in Osmannstädt; er soll auch mit der Tochter des Pfarrers vorübergehend ein zartes
Verhältnis gehabt haben. Eine Zeitlang hatte er den Einfall, sich in Koblenz
zu einem Tischler zu verdingen; kurz, er war bis zur tiefsten Resignation gesunken, ein
gebrochener Mann. Er selbst schreibt vier Monate später, am 29. Juli: Ich bin
nicht im Stande, vernünftigen Menschen einigen Aufschluß über diese seltsame Reise zu
geben. Ich selber habe seit meiner Krankheit die Einsicht in ihre Motiven verloren, und
begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere erfolgen konnten.\1\
Im Juni 1804
erschien der seinen Freunden ganz verschollene Kleist plötzlich wieder in Potsdam und
überraschte eines Abends den inzwischen zu seinem Regimente zurückgekehrten Pfuel.
Sobald Ulrike dies erfuhr, reiste sie herbei und übernahm in schwesterlicher Aufopferung
wieder die Sorge für seine Existenz, forderte aber von ihm, daß er nun der
unglücklichen Poesie für immer entsage und in den Staatsdienst zurücktrete. Kleist war
zu sehr gebrochen, um sich nicht zu fügen. Er wollte nicht mehr titanenhaft alles und das
Höchste auf einen Wurf setzen, sondern mannhaft um eine gesicherte Existenz kämpfen. Er
bemühte sich um die Huld des Königs, der schon seit Jahren gegen den Unbeständigen
eingenommen war und dem überdies Lucchesini Kleists exaltierten Brief aus St. Omer
an ihn vorgelegt hatte. Der Generaladjutant des Königs, der wunderliche K. L. von
Köckritz, hatte dem Unglücklichen eine Audienz gewährt, bei welcher er ihm dafür,
daß er das Militär verlassen, dem Civil den Rücken gekehrt, das Ausland durchstreift,
Verschegemacht, sich in der Schweiz ankaufen und später die Landung mitmachen
wollte, tüchtig den Text las; schließlich riet er ihm zu einer Immediateingabe, die
Kleist sofort aufsetzte. Inzwischen tauchte ein anderer Plan auf. Der Major Peter
von Gualtieri\2\, der Bruder seiner
Gönnerin und Cousine Marie von Kleist (ihr Gatte war Flügeladjutant des
Königs), erbot sich, den Dichter als Attaché nach Madrid mitzunehmen, wo er als
preußischer Gesandter hingehen sollte, doch zerschlug sich die Sache, weil der König
mittlerweile das Gesuch günstig aufgenommen hatte. Sogleich warf sich Kleist mit Eifer
auf die Kameralwissenschaft, um sich auf seine künftige Thätigkeit vorzubereiten. Jetzt
ward er, ohne Zweifel durch Rahel Levin, mit den jungen Dichtern vom
Nordsternbund, Chamisso, Varnhagen, Wilhelm Neumann bekannt, ver-
<XLVII:> hehlte ihnen aber auf das sorgfältigste, daß auch er ein Poet und
Verfasser der Familie Schroffenstein sei.\1\ Wahrscheinlich noch im Winter von 1804 auf 1805 wurde er auf
Empfehlung des damaligen Geh. Oberfinanzrats und späteren Ministers von
Altenstein, der ihm wohl wollte, als Diätar der Domänenkammer nach Königsberg
versetzt. Er fand hier, außer Arnim, Pfuel wieder, der gleichfalls eine Anstellung in
Ostpreußen gefunden hatte, und verkehrte viel im Hause der Oberpräsidentin von
Auerswald und des Staatsrats und patriotischen Dichters Friedrich August von
Stägemann. Auch Schwester Ulrike besuchte ihn einmal auf längere Zeit sie pflegte
sich zu ihm zu setzen, wenn er über Akten oder der Algebra brütete\2\, doch scheint Heinrich ihr öfter in gereizter Stimmung begegnet
zu sein, denn, wie er sich später entschuldigt, das Unglück machte ihn heftig,
wild und ungerecht.
In der Königsberger
Gesellschaft traf er auch seine ehemalige Braut Wilhelmine, die er schon 1804
in Frankfurt kurz nach ihrer Vermählung und vor ihrer Übersiedelung nach Königsberg
wiedergesehen, aber gemieden hatte, als zufriedene Gattin des Philosophieprofessors Wilhelm
Traugott Krug (1770-1842), der als Kants Nachfolger Professor der Logik und Metaphysik
geworden war. Die goldene Schwester wohnte damals bei ihr. Anfangs 1806 sah
Kleist die letztere zum erstenmal, ohne sein Zuthun, in einer Gesellschaft. Nachdem er
sich lange in peinlichen Empfindungen von ihr entfernt gehalten, faßte er sich endlich
ein Herz, ging auf die Schwester zu, forderte sie zum Tanze auf, sprach weich und herzlich
mit ihr, schüttete unter vielen Selbstanklagen sein Herz aus und fragte, ob ihn
Wilhelmine wohl würde wiedersehen wollen. Sie stellte ihn sogleich ihrem Schwager vor,
der ihn sie zu besuchen einlud, und nach kurzer Zeit war er im Hause täglicher Gast
geworden.\3\ Die beiden Schwestern
fanden ihn stiller und ernster als vordem, aber sein Gemüt von der alten kindlichen
Hingebung und seine Phantasie glühender als je. Er las ihnen von seinen neuen
Dichtungen vor, hörte gern ihre Urteile darüber an und entwickelte ihnen mit besonderer
Liebe seine Gedanken über die Kunst des Vortrags. Für die ehemalige Braut, mit der er
einst so schroff gebrochen, schrieb er auch eine beziehungsreiche, freie Übersetzung von
Lafontaines schöner Fabel: Die beiden Tauben.
\1\ Dieser Besuch und die Thatsache, daß
er Mädeli sein Bild zurückließ, spricht am besten gegen Bülows Angabe, daß ihm das
Mädchen wegen eines französischen Offiziers untreu geworden sei. Vgl. über diese Reise
Anhang Brief V.
\2\ Gutsbesitzer von Werdeck aus der
Nähe von Cottbus ist derselbe Verwandte, der den alten Wieland im Sommer 1803 mit einem
Empfehlungsschreiben Kleists besuchte. Vgl. Koberstein 65, 88, Bülow
36f. Lohse heiratete bald darauf Karoline von Schlieben und starb
nach kurzer Ehe in Mailand.
\1\ Die schwärmerische Dichterin und
Stiftsdame, die sich 1806 erstach, weil ihr Geliebter, der berühmte Philolog Creuzer, sie
verlassen hatte. Vgl. Goethes Briefwechsel mit einem Kinde I, 75f. und Bettinas
Die Günderode, Berlin 1840.
\1\ Vgl. Anhang Brief V, der mit
einemmale in diese ganze Periode Licht bringt.
\2\ Über diesen originellen,
offenherzigen, gewandten Hofmann vgl. Varnhagens Galerie von Bildnissen aus Rahels Umgang
und Briefwechsel I, 159ff. Er starb bald nach seiner Versetzung nach Madrid, dessen
Pöbel den Sarg des Protestanten mit Steinen bewarf.
\1\ Vgl. Varnhagens Denkwürdigkeiten
1843, I 315.
\2\ Vgl. Kleine Schriften S. 282,
32.
\3\ Als Krug 1809 nach Leipzig
berufen wurde, erhielt er abermals Kleists Besuch. (Biedermann XXIV.) Wilhelmine starb am
25. April 1852 nach vierzigjähriger glücklicher Ehe.
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