Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil.
Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885])
(Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XXXI-XXXV
Schweizer Aufenthalt
Kleist scheint in der That geglaubt zu haben, daß Wilhelmine ihre Einwilligung nicht
versagen werde; jedenfalls aber fühlte er, daß er für so viel Schmerzen, die er ihr
durch seine inneren Kämpfe zugefügt, ihr ein ruhiges Glück in der Zukunft schuldig sei.
Schon auf der Reise nach Paris hatte er oft mit sich gekämpft, ob es nicht eigentlich
seine Pflicht sei, sie zu verlassen, sie von dem zu trennen, der sichtbar, wie er meinte,
seinem Abgrund entgegeneilte. Warum, ruft er in einem seiner Briefe aus,
bin ich wie Tankred verdammt, das, was ich liebe, mit jeder Handlung zu
verletzen? Jetzt glaubte er endlich gefunden zu haben, was ihn und sie glücklich
machen könne. Er legte ihr in einem zweiten Briefe seinen Plan noch einmal mit vieler
Wärme ans Herz. Paris fesselte ihn durch nichts; er werde daher noch vor dem Winter nach
der Schweiz reisen, um den Winter selbst zu Erkundigungen und Anstalten zu
nützen. Aber er werde nichts Entscheidendes unternehmen, bis er Nachricht von ihr
erhalten habe. Endlich forderte er von ihr Geheimhaltung gegen alle; auch ihr Vater müsse
den Plan erst erfahren, wenn er ausgeführt sei. Aber Wilhelmine enttäuschte ihn bald.
Sie hatte seine dunklen Andeutungen mißverstanden und ahnte nicht, daß der Bauer nur der
Strohmann des Poeten, daß der Ackerbau ihm nur Mittel zum Zwecke sei. Von einer
dichterischen Beschäftigung, die er nebenbei als Schweizer Landmann treiben wolle, hatte
er ihr ja nichts deutlich gesagt, und so richteten sich denn alle ihre Einwürfe immer nur
gegen seinen Plan, als ein Bauer sich für immer aus Deutschland zu verbannen. Es ist ihr
daher nicht zu verdenken, daß sie gegen seine Forderung: sie solle sich gleich ihm aus
den gewohnten Verhältnissen, von Eltern und Verwandten und Vaterland losreißen und in
einem verborgenen Thale der Schweiz seine, eines Bauers Frau werden, ihm abermals
Vorstellungen machte. Noch am Morgen der Abreise von Paris erhielt er einen Brief von ihr,
der für ihre Weigerung, ihm nach der Schweiz zu folgen, mehrere Gründe anführte: es sei
ihr schmerzhaft, das väterliche Haus zu verlassen, sie sei zu schwach für die Pflichten
einer Bauersfrau, im Sonnenschein bekomme sie Kopfweh, er möge zu mündlicher Beratung
nach Frankfurt kommen u. s. w. Diese Weigerung erschütterte Kleists Plan nicht;
er war fest entschlossen, ihm alles zu opfern. Aber, wenn ich auch, als ich Deinen
Brief erhielt, meinen Koffer noch nicht durch die Post nach Bern geschickt gehabt hätte,
so würde ich doch nicht haben nach Frkft. zurückkehren können, <XXXII:>
wenigstens jetzt noch nicht. Denn, ob ich gleich alle die falschen Urtheile, die von
Gelehrten und Ungelehrten über mich ergehen werden, in der Ferne ertragen kann, so wäre
es mir doch unerträglich gewesen, sie anzuhören oder aus Mienen zu lesen. Ich kann nicht
ohne Kränkung an alle die Hoffnungen denken, die ich erst geweckt, dann getäuscht
habe und ich sollte nach Frkft. zurückkehren? Er war also entschlossen,
kein Hindernis zu beachten.
So verließ er im November
1801 Paris mit Ulriken, aber nur, um sich in Frankfurt am Main von ihr zu
trennen. Hier schrieb er noch einmal an Wilhelmine, daß er auf seinem Plane beharre.
Während Ulrike allein heimkehrte, reiste er nach der Schweiz. Schon in Paris hatte sich
ihm der Maler und Kupferstecher Lohse, der Verlobte seiner Dresdener Freundin
Karoline von Schlieben, angeschlossen, der als Landschafter in der Schweiz Studien machen
wollte und die dortigen Maler zu verdrängen hoffte. Er ist wohl ein guter
Mensch, schreibt Kleist an seine Schwester über den Reisegefährten, den man
recht lieb haben kann. Seine Rede ist etwas rauh, doch seine That ist sanft. Sicher
ist, daß sich schon in Metz zwischen dem reizbaren, empfindlichen Kleist und
dem derben Lohse, der gar wenig verstand, mit dem Zarten umzugehn, ein Zwist
entsponnen hatte, infolge dessen Lohse verschwand und lange vergeblich von Kleist gesucht
und endlich beschwichtigt wurde. Am 14. oder 15. Dezember kamen sie nach Basel.
Abermals schien der Rhein dem nachdenklichen Kleist ein Bild seines Lebens. Aber bald
erkennt er, daß das Land seiner idyllischen Träume kein Ort des Friedens ist. Ach,
Ulrike, ein unglückseliger Geist geht durch die Schweiz. Es feinden sich die Bürger
unter einander an. O Gott, wenn ich doch nicht fände, auch hier nicht fände, was ich
suche, und doch nothwendiger bedarf als das Leben!
Die
Schweiz war in der That durch die Einmischung des französischen
Direktoriums in die Zwistigkeiten des Berner Patriziats mit
dem waadtländischen Unterthanenlande und die hierauf erfolgte
Zertrümmerung der alten Eidgenossenschaft in unabsehbare Wirren
geraten. In Basel suchte Kleist vergeblich seinen Landsmann Heinrich
Zschokke, den nachmals fruchtbaren Novellisten, der aus
einem Frankfurter Privatdozenten helvetischer Regierungsstatthalter
und eine einfluß- und zukunftsreiche politische Persönlichkeit
in der Schweiz geworden war. Zschokke hatte kurz zuvor nach
dem Friedensschlusse seine Stelle niedergelegt, weil er eine
endlose Reihe von Kämpfen wider die alte Eidgenossenschaft
und den helvetischen Einheitsstaat voraussah, und war nach
Bern gezogen. So hielt sich Kleist nur wenige Tage in Basel
auf. Von da aus machten die beiden Reisegefährten bei Schnee
und Eis einen Ausflug nach Liestal\1\,
wo Lohse vielleicht winterliche Landschaftsmotive oder
Kleist los zu werden suchte. Hier entzweiten sie sich (22. Dezember).
Lohse reiste sofort <XXXIII:> ab, angeblich nach Basel.
Kleist, der sich von dem Auftritt krankhaft ermattet fühlte,
schrieb folgenden Tages an Lohse ein Schreiben, das von der
Exaltation seiner Stimmung Zeugnis ablegt. Ich will
Abschied von Dir nehmen auf ewig, und dabei fühle ich mich
so friedliebend, so liebreich, wie in der Nähe einer Todesstunde.
Ich bitte um Deine Verzeihung! Ich weiß, daß eine Schuld auch
auf meiner Seele haftet, keine häßliche zwar, aber doch eine,
diese, daß ich Dein Gutes nicht nach seiner Würde ehrte, weil
es nicht das Beßte war. O verzeihe mir!
Was suchten
wir wohl auf unserm schönen Wege? War es nicht Ruhe vor der
Leidenschaft? Warum grade, grade Du? Es war mir
doch Alles in der Welt so gleichgültig; wie gieng es zu, daß
ich mich oft an das Nichtswürdige setzen konnte, als gälte
es Tod und Leben? Ach, es ist abscheulich, abscheulich, ich
fühle mich jetzt wieder so bitter, so feindseelig, so häßlich
Und doch hättest Du alle holden Töne aus dem Instrumente locken
können, daß Du nun bloß zerrissen hast
O wenn Gott diesmal mein krankhaftes Gefühl nicht betrügen
wollte, wenn er mich sterben ließe! Denn niemals, niemals
hier werde ich glücklich sein, auch nicht wenn Du wiederkehrst
Und Du glaubst, ich würde eine Geliebte finden? Und kann mir
nicht einmal einen Freund erwerben? O geht, geht, ihr habt
alle keine Herzen. Schreibe mir, in ein Paar Monaten, wo Du
bist, dann will ich mein Versprechen halten, und Dir die Hälfte
von Allem überschicken, was mein ist. Als aber Kleist
folgenden Tages nach Basel reiste, wo er Lohse im gemeinschaftlichen
Quartier zu finden hoffte, da war dieses leer, und er erhielt
seinen Brief zurück: der Gefährte war gar nicht nach Basel,
sondern nach Bern gefahren. Kleist folgte ihm zürnend, denn
er mußte ja fast an einen absichtlich herbeigeführten Bruch
glauben, und wurde in Bern von Zschokke, der sich
von seinem gemütlichen Wesen, seinem Seelenadel und seiner
stillen Schwermut angezogen fühlte, bestens aufgenommen. Er
sah auch Lohse bald darauf unter den Arkaden wieder und schrieb
eine erste bittere, dann eine zweite wehmütige Nachschrift
unter den Brief aus Liestal, den er jetzt an ihn abschickte.
Wahrscheinlich versöhnten sie sich leidlich, denn sie bezogen
später eine gemeinsame Wohnung.
In Bern fand
Kleist neue Freunde, und in ihrer Gesellschaft neues Vertrauen zu seinen dichterischen
Gaben. Bisher war es sein Unglück gewesen, daß er völlig einsam und heimlich für sich
produziert hatte; hier geriet er nun zum erstenmal in eine Gesellschaft nach seinem Sinne.
Zschokke machte ihn mit Ludwig Wieland, dem Sohne des Oberon-Dichters, und
dessen Schwager, dem Buchhändler Heinrich Geßner\1\, dem Sohne des Idyllendichters, bekannt. Das leichtsinnige,
lustige Sorgenkind des Wielandschen Hauses, auch ein aufstrebender Poet, dessen Lustspiele
und Erzählungen freilich mit Recht verschollen sind, sollte in Bern <XXXIV:> die
französische Sprache lernen und womöglich eine Anstellung finden. Er schwärmte so sehr
für die romantische Schule, daß ihm sein eigener Vater kaum mehr für einen Dichter
galt, und sah mit den jungen Neuerern in Goethe den Messias der deutschen Litteratur.
Zschokke dagegen liebte Schiller und sein begeisternd ans Herz der Hörer schlagendes
Pathos über alles und kannte von Schlegel und Tieck kaum mehr als den Namen. Man teilte
sich gegenseitig die eigenen Dichtungen mit, und nun endlich trat auch Kleist aus seiner
Verschlossenheit hervor und öffnete seine sorgfältig gehüteten Mappen. Aber sein erstes
Auftreten als Dichter war nicht eben glücklich. Als er den Freunden die Familie
Ghonorez vorlas, wurde im letzten Akte das Gelächter so stürmisch, anhaltend
und den Dichter selber ansteckend, daß es ihm unmöglich war, bis zur letzten Mordscene
zu gelangen; aber die Freunde sahen dennoch aus dieser Arbeit und vielleicht aus dem
gewiß schon entworfenen Robert Guiskard, daß in Kleist eine geniale
Begabung stecke. Wieland beeilte sich, dies seinem Vater zu melden: es sei ein ganz
außerordentliches Talent entdeckt, das sich mit aller Kraft auf die dramatische Kunst
geworfen habe, und von dem in diesem Fach etwas viel Größeres zu erwarten sei, als
bisher in Deutschland gesehen worden. Am 10. Juni 1802 antwortet der alte Wieland:
Dein neuer Freund v. Kleist interessirt mich so sehr, daß Du mich durch
nähere Nachrichten von ihm sehr verbinden würdest. Geßner, der Buchhändler und
helvetische Nationalbuchdrucker, erbot sich, die Familie Ghonorez in Verlag zu
nehmen. Zugleich aber bewog ihn Ludwig Wieland, die in Spanien vorgehende Handlung des
Stückes nach Schwaben zu verlegen. Kleist folgte diesem Rat, arbeitete sofort das
spanische Drama um, und so entstand daraus: Die Familie Schroffenstein. Bald
umringte ihn eine Menge von Entwürfen und Plänen, und er stürzte in eine Hitze der
Produktion, die ihn nur zu bald erschöpfen mußte. Die jungen Freunde vereinten sich
unter anderem auch, wie Virgils Hirten, zum poetischen Wettkampfe. In
Zschokkes Mietzimmer neben dem Café italien hing ein französischer
Kupferstich von J. J. Le Veau: Le juge ou la chruche cassée, nach
einem Gemälde von Debucourt. In dessen Figuren glaubten die Freunde ein trauriges
Liebespärchen, eine keifende Mutter und einen großnasigen Richter zu erkennen; darüber
kam ihnen der Einfall, jeder von ihnen sollte diesen Gegenstand in seiner Weise verwerten:
Wieland als Satire, Zschokke als Erzählung, Kleist als Lustspiel. Wieland verfaßte eine
einaktige, in Blankversen geschriebene, übrigens jämmerliche Komödie: Ambrosius
Schlinge, die vier Jahre später veröffentlicht wurde\1\; Zschokke seine bekannte anmutige Erzählung: Der
zerbrochene Krug, Geßner schrieb einfach die holperigen Hexameter ab, in welche der
große Versifex Ramler 1787 seines Vaters Idylle: Der zerbrochene Krug, Klagen
eines Fauns über sein zerschelltes Weingefäß, gezwängt hatte, und Kleist <XXXV:>
errang den Preis mit seinem unsterblichen Lustspiel. Zschokke verlegte seine Erzählung in
die Heimat des Bildes, nach Frankreich, und machte den Richter, wozu Debucourt nicht
auffordert, zum Rivalen des Burschen; letzteres that auch Kleist, der zu der meisterhaften
Wahl des niederländischen Schauplatzes gewiß durch den Charakter des Bildes bewogen
wurde.\1\ Einen anderen größeren Stoff
fand er in der Schweizergeschichte, ein Drama: Leopold von Österreich; doch
ward nur der später vernichtete erste Akt vollendet, aus dem sich Pfuel einer Scene
entsann, wo die übermütigen österreichischen Ritter am Vorabend im Zelt das
Schlachtenglück auswürfeln, und einer nach dem anderen schwarz wirft.\2\ Vor allem beschäftigte ihn aber in der
Schweiz sein dramatisches Ideal: Robert Guiskard.
\1\ Kleist schreibt den Hauptort des
jetzigen Halbkantons Baselland, offenbar durch den Schweizer Dialekt irre geführt,
Liechsthal. Vgl. Briefe II.
\1\ Über diese Schweizer Freunde und
den ganzen Aufenthalt vgl. Zolling, H. v. Kleist in der Schweiz, Stuttgart 1882.
\1\ Über Ludwig Wielands Talent als
Lustspieldichter vgl. Hoffmanns v. Fallersleben Findlinge, S. 170ff.: Brief des
alten Wieland an Iffland (24. Febr. 1806).
\1\ Vgl. Kleists Vorrede in unserer
Einleitung zum Zerbrochnen Krug.
\2\ Bülow 40 meint zwar, die
verschollenen Dramen in Shakespeareschem Stil: Peter der Einsiedler
und Leopold von Österreich, von welch letzterem ihm Rühle aus der Erinnerung
einen Teil des Planes erzählt habe, seien 1803 in Paris entstanden, aber da Kleist damals
nur kurze Zeit dort lebte, so muß ihre Entstehungszeit früher anzusetzen sein. Tieck
behauptet dagegen, die Tragödie über den Fall Leopolds habe Kleist 1804 in Dresden
schreiben wollen, aber nicht geschrieben.
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