Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil.
Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885])
(Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XV-XIX
Würzburger Reise
Am 28. August früh wurde die geheimnisvolle Reise angetreten, auf welcher Brockes
mit nie ermüdendem Wohlwollen und mit immer stillem und anspruchslosem Eifer bis ins
Kleinste für des Freundes Wohl sorgte. Karl von Zenge gab ihnen das Geleite bis Potsdam,
wo sie bei Kleists jüngerem Bruder Leopold, der bei der Garde stand,
übernachteten. Kleist besprach einiges Notwendige mit Rühle, der eben um seinen Abschied
angehalten hatte. Nach einem flüchtigen Besuche von Sanssouci ging es weiter durch die
Mark: über Treuenbrietzen, Wittenberg und Düben nach Leipzig,
wo sie am 30. früh ankamen. Sie ertrugen im Schauspiel nur zwei Akte des
Abällino von Heinrich Zschokke, dem ehemaligen Frankfurter
Studenten und Privatdozenten, der gewiß ein alter Bekannter des Kleistschen Hauses war,
und am 1. September ließen sie sich unter falschem Namen immatrikulieren. Kleist,
der überdies aus Vorsicht seine Reisebriefe mit dem Wappen seines Begleiters siegelte,
schreibt seiner Braut über diesen Streich: Ich will Dir umständlich die Geschichte
unserer Immatrikulation erzählen. Wir gingen zu dem Magnificus Prof. Wenk,
eröffneten ihm, wir wären aus der Insel Rügen, wollten kommenden Winter auf der
hiesigen Universität zubringen, vorher aber noch eine Reise ins Erzgebirge machen,
und wünschten daher, jetzt <XVI:> gleich Matrikeln zu erhalten. Er fragte nach
unseren Vätern. Brockes Vater war ein Amtmann, meiner ein invalider schwedischer
Capitain.\1\ Er machte weiter keine
Schwierigkeiten, las uns die akademischen Gesetze vor, gab sie uns gedruckt, streute viele
weise Ermahnungen ein, überlieferte uns dann die Matrikeln und entließ uns in Gnaden.
Wir gingen zu Hause, bestellten Post, wickelten unsere Schuhe und Stiefeln in die
akademischen Gesetze und hoben sorgsam die Matrikeln auf. Der Student der
Mathematik Heinrich Berndt Wilhelm Klingstedt und der Student der Ökonomie
Moritz Ludwig Bernhoff, beide angeblich aus Rügen, fuhren hierauf über Grimma,
Waldheim, Nossen, Wilsdruff und Kesselsdorf nach Dresden, wo
flüchtig die Galerie, die Stadt und die Umgebung besucht wurden, angeblich auch der
englische Gesandte Lord Elliot, der ihnen Pässe geben sollte. Hier wollten
sie Dinge gehört haben, die sie bewogen, nicht nach Wien zu reisen, sondern entweder nach
Würzburg oder Straßburg. Die Reise geht von Dresden über Freiberg
nach Öderan im Erzgebirge, wo die Freunde am 4. September
eintrafen, dann über Chemnitz, Lungwitz und Zwickau, an dem
Schönsten, was Kleist auf der ganzen bisherigen Reise sah: Schloß Lichtenstein
vorüber, nach Reichenbach, unterwegs auf jeder Station an einem Briefe für
die Braut schreibend, zum Teil sehr umständlich, denn er denkt diese Papiere einst für
sich zu nützen. Wie froh bin ich, äußert er einmal, daß doch
wenigstens ein Mensch in der Welt ist, der mich ganz versteht. Ohne Brockes würde mir
vielleicht Heiterkeit, vielleicht selbst Kraft zu meinem Unternehmen fehlen. Denn ganz auf
sein Selbstbewußtsein zurückgewiesen zu sein, nirgends ein Paar Augen finden, die uns
Beifall zunicken, und doch recht thun, das soll freilich, sagt man, die Tugend
der Helden sein. Aber wer weiß, ob Christus am Kreuze gethan haben würde, was er that,
wenn nicht aus dem Kreise wüthender Verfolger seine Mutter und seine Jünger feuchte
Blicke des Entzückens auf ihn geworfen hätten. Die Gedanken an seine Liebe kommen
oft allmächtig über ihn, und dann verrät uns sein Herz, daß er die Braut wirklich
innig liebt. Im Plauenschen Grunde sieht er ein enges Häuschen, aber
für zwei Menschen und die Liebe weit genug, weit hinlänglich genug. Ich verlor mich in
meinen Träumereien. Ich sah mir das Zimmer aus, wo ich wohnen würde, ein anderes, wo
Jemand Anderes wohnen würde, ein drittes, wo wir beide wohnen würden. Ich sah eine
Mutter auf der Treppe sitzen, ein Kind schlummernd an ihrem Busen. Im Hintergrund
kletterten Knaben an dem Felsen und sprangen von Stein zu Stein und jauchzten
laut
So erinnert mich fast jeder Gegenstand durch eine entfernte oder nahe
Beziehung an Dich, mein geliebtes Mädchen. Und wenn mein Geist <XVII:>
sich einmal in eine wissenschaftliche Folgenreihe von Gedanken von Dir entfernt, so führt
mich ein Blick auf Deinen Tabaksbeutel, der immer an dem Knopf meiner Weste hängt, oder
auf Deine Handschuhe, die ich selten ausziehe, oder auf das blaue Band, das Du mir um den
linken Arm gewunden hast, und das immer noch unaufgelöst, wie das Band unsrer Liebe
verknüpft ist, wieder zu Dir zurück. Nur selten denkt er daran, daß sein
mysteriöses Gehaben die Geliebte befremden müsse. Warum, wirst Du sagen, warum
spreche ich so geheimnißreiche Gedanken halb aus, die ich doch nicht ganz sagen will?
Warum rede ich von Dingen, die Du nicht verstehen kannst und sollst? Liebes Mädchen, ich
will es Dir sagen. Wenn ich so etwas schreibe, so denke ich mich immer zwei Monate älter.
Wenn wir dann einmal, in der Gartenlaube, einsam, diese Briefe durchblättern werden, und
ich Dir solche dunkle Äußerungen erklären werde, und Du mit dem Ausrufe des Erstaunens:
ja so, so war das gemeint \1\. Die Dorfschönen in jenen Gegenden gefallen seinem Kennerauge sehr
gut, und er scherzt: Wahrlich, wenn ich Dich nicht hätte, und reich wäre, ich
sagte adieu à toutes les beautés des villes. Ich durchreiste die Gebirge,
besonders die dunklen Thäler, spräche ein von Haus zu Haus, und wo ich ein blaues Auge
unter dunkeln Augenwimpern, oder bräunliche Locken auf dem weißen Nacken fände, da
wohnte ich ein Weilchen und sähe zu, ob das Mädchen auch im Innern so schön sei, wie
von außen. Wäre das, und wäre auch nur ein Fünkchen von Seele in ihr, ich nähme sie
mit mir, sie auszubilden nach meinem Sinne. Denn das ist nun einmal mein
Bedürfniß; und wäre ein Mädchen auch noch so vollkommen, ist sie fertig, so ist es
nichts für mich. Ich selbst muß es mir formen und ausbilden. In Reichenbach
bemerkt er, daß folgenden Tages am 6. der Waffenstillstand zwischen Kaiserlichen und
Franzosen aufhört, und daß die Reise nach Bayreuth jetzt gerade den
Franzosen entgegengeht. Am 11. September schreibt er aus Würzburg, das
von Flüchtigen und Reichstruppen wimmelt. Kleist prüft mit sachverständigem Blicke die
Citadelle und ist der Meinung, daß sie ebenso unhaltbar sei als die Stadt, von der er der
Braut eine Beschreibung giebt. Der nächste Brief vom 13. September beginnt mit dem
Jubelruf: Mädchen, wie glücklich wirst Du sein! Und ich! Wie wirst Du an meinem
Halse weinen, heiße innige Freudenthränen! Wie wirst Du mir mit Deiner ganzen Seele
danken! Doch still! Noch ist nichts ganz entschieden,
aber der Würfel liegt, und, wenn ich recht sehe, wenn nicht alles mich
täuscht, so stehen die Augen gut. Sei ruhig. In wenigen Tagen kommt ein froher Brief an
Dich, ein Brief, Wilhelmine, der doch ich soll ja nicht reden, und so
will ich denn noch schweigen, auf diese wenigen Tage. Nur diese gewisse
Nachricht will ich Dir mittheilen: ich gehe von hier nicht weiter nach Staßburg,
sondern bleibe in Würzburg. Eher, als Du <XVIII:> glaubst, bin ich wieder bei Dir
in Frankfurt. Küsse mich, Mädchen, denn ich verdiene es. Daran reiht sich eine
Beschreibung des Julius-Hospitals und seiner Insassen und des gesellschaftlichen und
litterarischen Lebens in der frommen Stadt. Am 15. September ergreifen ihn wieder
böse Zweifel. Zürnst Du vielleicht auf den Geliebten, der sich so muthwillig von
der Freundin entfernte? Schiltst Du ihn leichtsinnig, den Reisenden, ihn, der auf dieser
Reise Dein Glück mit unglaublichen Opfern erkauft und
jetzt vielleicht vielleicht schon gewonnen hat? Wirst Du mit
Mißtrauen und Untreue dem lohnen, der vielleicht in Kurzem mit den Früchten seiner That
zurückkehrt? Wird er Undank bei dem Mädchen finden, für deren Glück er sein
Leben wagte? Wird ihm der Preis nicht werden, auf den er rechnete, ewige,
innige, zärtliche Dankbarkeit? Dann überkommen ihn seine pädagogischen
Gedanken. Ja, Wilhelmine, wenn Du mir könntest die Freude machen, immer
fortzuschreiten in Deiner Bildung mit Geist und Herz, wenn Du es mir gelingen lassen
könntest, mir an Dir eine Gattin zu formen, wie ich sie für mich, eine Mutter, wie ich
sie für meine Kinder wünsche, erleuchtet, aufgeklärt, vorurtheilslos, immer der
Vernunft gehorchend, gern dem Herzen sich hingebend dann, ja dann könntest Du
mir für eine That lohnen, für eine That . Dem Schreiben liegt ein
Aufsatz bei über die Bestimmung des irdischen Lebens, der zu dem Schlusse kommt, es sei
ihre einzige Bestimmung, Mutter zu werden und der Erde tugendhafte Menschen zu erziehen.
Sobald die Freunde sicher
waren, daß sie nicht nach Straßburg zu reisen brauchten, sondern mehrere Wochen in
Würzburg sich aufhalten würden, mieteten sie, um dem teueren Gasthofe zu entgehen, ein
eigenes Quartier in einem kleinen versteckten Häuschen bei einem Wirte Namens Wirth,
also in einem doppelten Wirthshause. Nachdem sie alle Sehenswürdigkeiten der
Stadt gesehen, weilten sie viel zu Hause, schreibend, lesend, plaudernd, von einem
freundlichen Mädchen bedient. Am 10. Oktober, seinem vermeintlichen Geburtstage,
erinnerte er sich jener schmerzlichen Stunde, die ihn aus Wilhelminens Armen gescheucht,
und er jauchzt nun auf: Damals war ich Deiner nicht würdig, jetzt bin ich
es
Damals quälte mich das Bewußtsein, Deine heiligsten Ansprüche nicht
erfüllen zu können, und jetzt, jetzt doch still
Wichtig ist das folgende Bekenntnis: Ich werde Dir die Gattin beschreiben,
die mich jetzt glücklich machen kann und das ist die große Idee, die
ich für Dich im Sinne habe. Das Unternehmen ist groß, aber der Zweck ist es auch. Ich
werde jede Stunde, die mir meine künftige Lage übrig lassen wird, diesem Geschäfte
widmen. Das wird meinem Leben neuen Reiz geben, und uns Beide schneller durch die
Prüfungszeit führen, die uns bevorsteht. In fünf Jahren, hoffe ich, wird das
Werk fertig sein. Fürchte nicht, daß die beschriebene Gattin nicht von Erde
sein wird, und daß ich sie erst in dem Himmel finden werde. Ich werde sie <XIX:> in
5 Jahren auf dieser Erde finden und mit meinen irdischen Armen umschließen.
Vielleicht denkt hier Kleist an eine poetische Beschreibung, eine Idealfigur,
die er dichterisch schaffen und der Braut, als Muster hinstellen will. Und wenn wir uns
erinnern, daß er ein Jahr später der Schwester von dem Gedichte spricht, das der Welt
ihre Liebe zu ihm erklären soll, so scheint es uns wahrscheinlich, daß er schon in
Würzburg an seinem Robert Guiskard\1\
schrieb, und daß Cäcilia, dessen Gemahlin, ebenso bestimmt war, der Braut die ideale
Gattin zu zeigen, als er in Helena, Guiskards Tochter und des jungen Robert Schwester, die
schwesterliche aufopfernde Liebe Ulrikens poetisch gestalten wollte. In fünf Jahren hofft
er mit diesem Riesenwerke zu Ende zu sein und lorbeergekrönt Wilhelmine heimzuführen und
Ulrike mit Stolz erfüllen zu können.
Und nicht minder bedeutsam
ist die spätere Stelle: Hast Du Dich aus Mißtrauen von mir losreißen wollen, so
gieb es jetzt wieder auf, jetzt, wo bald eine Sonne über mich aufgehen wird.
Wie würdest Du in Kurzem herüberblicken mit Wehmuth und Trauer zu mir, von dem Du Dich
losgerissen, gerade da er Deiner Liebe am Würdigsten war! Wie würdest Du
Dich selbst herabwürdigen, wenn ich heraufstiege vor Deinen Augen, geschmückt
mit dem Lorbeer meiner That!\2\
\1\ In der Immatrikulationsliste der
Universität Leipzig finden sich in der That unter jenem Datum eingetragen: Bernhoff
Maurit. Ludov. Rugia-Pomeran. und Klingstedt Henr.
Berendtt. Gul., Rugia-Pomeran. Es sind das die Namen, welche
Kleist in einem Briefe an seine Schwester Ulrike v. 26. Aug. 1800 (Koberstein 34) als
diejenigen nennt, welche sie auf dieser Reise sich beilegen wollten.
\1\ Vgl. Biedermann 56f.
\1\ Daß dieser Stoffkreis ihn ein paar Monate
später beschäftigte, beweist wohl sein Seufzer (21. Mai 1801): Warum bin ich,
wie Tankred, verdammt, das, was ich liebe, mit jeder Handlung zu
verletzen? Die Entstehung seines Erstlings: Die Familie
Ghonorez fällt gewiß viel früher, als bisher angenommen wurde. Die Handschrift
des Manuskipt zeigt die regelmäßigen, sorgfältigen Züge, die wir aus den ersten
Bräutigamsbriefen kennen. Das Stück dürfte schon in die Frankfurter Studentenzeit
fallen, wenn nicht gar in Potsdam begonnen worden sein. Kleist hat ohne Zweifel
frühzeitig und ohne Unterlaß poetisch gearbeitet, aber alles sorgfältig verheimlicht.
Am 27. Okt. 1800 schreibt er aus Berlin der Schwester: Sollte Tante gern in
mein Bureau wollen, wegen der Wäsche, so sorge doch auf eine gute Art dafür, daß der
obere Theil, worin die Schreibereien, gar nicht geöffnet werde.
(Koberstein 38.)
\2\ Wilbrandt hat in seinem Buche: Heinrich
von Kleist, Nördlingen 1863, S. 61ff. zuerst die Ansicht vertreten, daß Kleist auf
der Würzburger Reise nur sich selbst d. h. seinen Dichterberuf und nichts anderes
suchte.
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