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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, V-VIII

Militärdienst und Studium

Als Fähnrich kehrte Kleist noch im Jahre 1795 nach Potsdam zurück; in der Rangliste von 1796 ist er als vierter Fähnrich im Regiment Garde zu Fuß eingeschrieben. Erst am 7. März 1797 rückte er zum Secondelieutenant vor. In diesem Jahre machte er eine Harzreise in Gesellschaft seines Kameraden Rühle\1\, wobei der Brocken und der Regenstein bestiegen wurden. „Die Temperatur auf der Höhe des Thrones,“ schreibt er lehrhaft, „ist so rauh, so empfindlich und der Natur des Menschen so wenig angemessen, wie der Gipfel des Blocksbergs, und die Aussicht von dem einen so wenig beglückend wie von dem andern, weil der Standpunkt auf beiden zu hoch, und das schöne und reizende um beides zu tief liegt. Mit weit mehrerem Vergnügen gedenke ich dagegen der Aussicht auf der mittleren und mäßigen Höhe des Regensteins, wo kein trüber Schleier die Landschaft verdeckte und der schöne Teppich im Ganzen, wie das unendlich Mannigfaltige desselben im Einzelnen klar vor meinen Augen lag. Die Luft war mäßig, nicht warm und nicht kalt, gerade so wie sie nöthig ist, um frei und leicht zu athmen.“ Und später meint er, eine Reise verschaffe einem ein glückliches Verhältnis mit den Menschen. „Schon auf unserer kleinen Harzwanderung haben wir häufig diese frohe Erfahrung gemacht. Wie oft, wenn wir ermüdet und erschöpft von der Reise in ein <VI:> Haus traten, und den Nächsten um einen Trunk Wasser baten, wie oft reichten die ehrlichen Leute uns Bier oder Milch und weigerten sich, Bezahlung anzunehmen. Oder sie ließen freiwillig Arbeit und Geschäfte im Stiche, um uns Verirrte oft auf entfernte rechte Wege zu führen.\1\ Es ist wohl dieselbe Reise gemeint, von der er drei Jahre später in einem Briefe spricht: „Ich erstieg um Mitternacht den Stufenberg hinter Gernerode. Da stand ich, schauernd, unter den Nachtgestalten, wie zwischen Leichensteinen, und kalt wehte mich die Nacht an, wie ein Geist, und öde schien mir der Berg, wie ein Kirchhof. Aber ich irrte nur so lange die Finsterniß über mich waltete. Denn als die Sonne hinter den Bergen hinauf stieg, und ihr Licht ausgoß über die freundlichen Fluren, und ihre Strahlen senkte in die grünenden Thäler, und ihren Schimmer heftete um die Häupter der Berge, und ihre Farben malte an die Blätter der Blumen und an die Blüthen der Bäume – ja, da hob sich das Herz mir unter dem Busen, denn da sah ich, und hörte, und fühlte, und empfand nun mit allen meinen Sinnen, daß ich ein Paradies vor mir hatte.“\2\
In diese Zeit fällt sein erstes Herzensverhältnis zu einem jungen adeligen Fräulein in Potsdam, Louise von Linkersdorf.\3\ Er liebte sie innig, und als die Verlobung später wieder rückgängig ward, soll er fortan sein Äußeres vernachlässigt und sich von den Menschen tiefer in sein Inneres zurückgezogen haben. Ein paar Jahre später hatte er wieder eine Begegnung mit seiner ersten Geliebten und schreibt darüber: „Als ich vor Linkersdorf vorbeifuhr, ward es mir im Busen so warm. Jeder Gegenstand in dieser Gegend weckte irgendwo in meiner Seele einen tiefen Eindruck wieder auf. Ich betrachtete genau alle Fenster des großen Hauses, aber ich wußte im Voraus, daß die ganze Familie verreiset war. Wie erstaunte ich, als ich in jenem niedrigen, dunklen Zimmer, zu welchem ich des Abends so oft geschlichen war, Louisen entdeckte. Ich grüßte sie tief. Sie erkannte mich gleich, und dankte mir sehr, sehr freundlich. Mir strömten eine Menge von Erinnerungen zu. Ich mußte einigemal nach dem einst so lieben Mädchen wieder umsehen. Mir ward ganz seltsam zu Muthe. Der Anblick dieses Mädchens, das mir einst so theuer war, und dieses Zimmer, in welchem ich so viele Freude empfunden hatte – – –.“
Kleist suchte Trost in der Beschäftigung mit den Wissenschaften. Mehr Student als Offizier, studierte er teils auf eigene Faust, teils unter Anleitung eines Potsdamer Schulmannes, des Konrektors Bauer, Mathematik und Philosophie „als die beiden Grundfesten unseres Wissens“, <VII:> daneben die griechische und die lateinische Sprache. Dieses Studium zog ihm zwar den Unwillen seines Chefs, des Generals von Rüchel\1\ zu, aber es schmeichelte diesem doch wieder, unter seinen Befehlen gebildete Offiziere zu haben. Doch Kleists Wissensdrange genügte es nicht, daß er nur seine Mußezeit den Wissenschaften widmen sollte. Schon im Anfang 1798 dachte er ernstlich daran, um seinen Abschied von der Armee unmittelbar beim König einzukommen. Durch einen Zufall reifte ein Jahr danach dieser Plan zum unabänderlichen Entschluß. Er vertraute sich seiner Schwester Ulrike und jenem Hauslehrer aus der Knabenzeit Martini an, der jetzt in Frankfurt als Geistlicher lebte. Was auch seine Geschwister und entferntere Verwandten dagegen einwenden mochten, was immer von seiten seiner militärischen Vorgesetzten, auch vom General von Rüchel, und den Kameraden aufgeboten wurde, um ihn bei dem Heere festzuhalten, selbst dem ihm gewogenen König gegenüber, der ihm bloß einen unbestimmten Urlaub gewähren wollte, nach dessen Verlauf er wieder in das Regiment eintreten konnte\2\: Kleist blieb unerschütterlich bei seinem Entschluß, dem unangemessenen Berufe zu entsagen. Am 4. April 1799 erlangte er seinen Abschied als Secondelieutenant. Sofort siedelte er zu seinen Geschwistern nach Frankfurt über, um mit allem Eifer an der dortigen Hochschule das Versäumte nachzuholen und die Universitätsstudien nach eigenem Plane zu beginnen.
Er wollte nach seiner Art glücklich werden. Sein Ideal war der ästhetische Mensch in Schillers Sinne. Diese ästhetische Erziehung seines inneren Menschen sollte ihm das Universitätsstudium gewähren. Er wollte sich „für das Allgemeine, für das Leben“ bilden; ob und wie er sich die besonderen Kenntnisse einer bestimmten Fach- und Brotwissenschaft aneignete, war ihm ziemlich gleichgiltig. Aber keineswegs als Dilettant, sondern mit dem größten Ernst und einem eisernen Fleiß, wie der Geschichtsschreiber Dahlmann später aus seinen Kollegienheften ersah\3\, wenn auch ziemlich planlos, obwohl er sich an einzelne Lehrer, wie den Mathematiker Wünsch und den Geschichtsprofessor Hüllmann, eng anschloß, setzte er als Autodidakt die in Potsdam begonnenen Studien fort. Er studierte so eifrig, daß er selbst später glaubt, den Grund zu der Zerrüttung seiner Nerven damals in Frankfurt gelegt zu haben. Besonders fühlte er zur Physik einen ihm selbst unerklärlichen Hang. Dann ergriff ihn die Kantische Philosophie, um ihn nie wieder ganz loszugeben, selbst nicht als er sich entsetzt über die Beschränkung des <VIII:> menschlichen Willens, die sie lehrt, von ihr und aller Wissenschaft angewidert fühlte. Allein in jenen ersten frohen Monaten des über Hals und Kopf betriebenen Studiums genügte es ihm nicht zu lernen, er wollte gleich auch selber lehren. Statt an dem Studentenleben teilzunehmen, übte er sein pädagogisches Talent an den Schwestern und deren Freundinnen: er suchte ihre an Provinzialismen reiche Sprechweise zu verbessern, unterrichtete sie in deutscher Sprache und Litteratur, ließ sich in seiner Wohnung ein Katheder bauen, um sich schon jetzt in seine zukünftige Professorenrolle hineinzuleben und las ihnen ein förmliches Kolleg nach eigenem Heft über Kulturgeschichte, wie er sie eben bei seinem Professor Hüllmann gehört und kaum verdaut haben mochte. Schon hier zeigte sich der überspannte Ehrgeiz, der alles zugleich und zwar das Höchste wollte. Dabei war er in seinem Ernste sehr empfindlich. Seine Vorlesungen brach er einmal plötzlich ab, als eine seiner Zuhörerinnen auf einen vorübergehenden Zug aufmerksamer war, als auf ihn, und erst durch langes Bitten ließ er sich bewegen, seine pädagogische Thätigkeit wieder aufzunehmen. So ausgelassen er zuweilen sein konnte, so verschlossen und scheu hielt er sich gewöhnlich zurück. Der geringste sittliche oder ästhetische Verstoß konnte ihn in seiner feinfühligen Reizbarkeit außer Fassung bringen. Dazu entwickelte sich – als natürliche Beigabe einer so angespannten und nervösen Lebensthätigkeit – sein Hang zur Zerstreutheit, der oft die wunderlichsten Situationen herbeiführte. Daneben zeigte er einen starken Hang zur Pedanterie in vielem, was er sagte und that. Es erschütterte ihn um diese Zeit aufs tiefste, als einer seiner nächsten Freunde sich durch einen Pistolenschuß das Gesicht entstellt hatte, ohne zu sterben, und er schrieb dem Unglücklichen einen herzergreifenden (verloren gegangenen) Brief über das Sündhafte einer solch feigen That. Nicht selten überkam ihn wieder eine krankhafte Stimmung, in der er die Gesellschaft der Menschen geradezu floh. Nur von seiner excentrischen, abenteuerfrohen Stiefschwester Ulrike glaubte er sich verstanden, aber sie weilte häufig bei Verwandten auf dem Lande. „Du bist die Einzige,“ schreibt er ihr, „die mich hier ganz versteht … Wärst Du ein Mann oder nicht meine Schwester, ich würde stolz sein, das Schicksal meines ganzen Lebens an das Deinige zu knüpfen.“ Wie einsam er sich sonst unter den Menschen fühlte, wie krankhaft er in ihrer Nähe leiden konnte, verraten seine brieflichen Klagen nur zu oft. Bald jedoch fand er in seiner Schülerin Charlotte Wilhelmine, der ältesten der sieben Töchter des Generalmajors von Zenge (aus der Grafschaft Hohenstein stammend) eine verständnisvolle Freundin und Braut. Dieses Verhältnis trug keine Gewähr der Dauer und des Glückes in sich. Es war sogar ein Unglück für Wilhelmine und noch mehr für den mit seinem Bildungsgange beschäftigten, mit dunklem poetischen Drange ringenden Kleist, der durch Rücksichten auf seine Braut genötigt wurde, ein Brotstudium zu wählen und sich für ein Amt zu entscheiden.

\1\ Johann Jakob Otto August Rühle von Lilienstern, nachmals preußischer Generallieutenant, Chef des Großen Generalstabes und Direktor der Studienkommission und der Berliner Allgemeinen Kriegsschule, geboren 1780 zu Berlin, erhielt seine Vorbildung im Kadettencorps daselbst, trat 1798 als Fähnrich in das Garderegiment, wo auch Kleist diente.
\1\ Vgl. Kleine Schriften S. 275, 281.
\2\ Vgl. Biedermann S. 87.
\3\ Ihren Namen erfahren wir erst aus den von Biedermann publizierten Briefen S. 37. Im ersten Abdrucke seiner Kleist-Biographie in den Ergänzungsblättern zur Augsburger Allgemeinen Zeitung Nov. 1846 (S. 513) führt Bülow den Anfangsbuchstaben ihres Namens: v. L. an und ebenso Kleists Vetter Pannwitz nur: v. P. Im Briefe von Albanus, der uns im Original vorlag, ist der letztere Name ausgeschrieben.
\1\ E. Fr. Wilh. Phil. von Rüchel (1754-1823), als „Blücher der Infanterie“ von Stägemann besungen, sah seine Laufbahn in die Katastrophe von 1806 für immer hinabgeschlungen; vgl. Varnhagen Zur Geschichte und Litteratur 1833.
\2\ Dies erzählt Kleist selbst (Koberstein 95), und daraus erklärt es sich, daß der König später nicht mehr so gut auf ihn zu sprechen war.
\3\ Vgl. Einleitung zu Kleists Gesammelten Schriften, herausgegeben von Ludwig Tieck, revidiert, ergänzt und mit einer biographischen Einleitung versehen von Julian Schmidt, Berlin 1874, I, XCVI.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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