Rüdiger Wartusch, Neue Lebensspuren Heinrichs von Kleist im Briefwechsel zwischen
Böttiger und Falk, in: KJb (1996), 188-200; darin: 192-195
Johann Daniel Falk an Karl August Böttiger, Dresden, 1. 7. 1803
Dresden den 1. July 1803
Meine Zeit in Dresden geht zu Ende: ich kann dieß Mal also nur ganz kurz seyn. Ihren
gütigen Brief habe ich erhalten und freue mich ihrer Erinnerung. Da die Sache mit meinen
Erbschaftsangelegenheiten immer noch nicht zum Schluß ist: so wünsche ich meinen
Chikanen durch Bekanntmachung jenes Briefes keinen Vorschub zu thun.\18\ Nach diesem wollen wir aber die Lauge, womöglich noch mehr
schärfen; wozu uns die Rechnungen, die uns die heilige Justiz in die Hand gibt, eine gute
Gelegenheit bieten. In Dresden hab ich sehr zweckmäßig gelebt. Sie wissen, werther
Freund, daß es hier ausser den Gemählden auch vielerley Menschen gibt. <193:>
Ich habe einige davon kennen gelernt. Hofprediger Reinhard\19\ oder Kanzler v. Zedwitz, ein Fräulein Imwinkel e. c.
Ausserdem die sämtlichen Mitglieder der Kunstacademie. Können Sie glauben, daß bey
Gelegenheit, als ich die Mengsischen Gipsabgüsse in Augenschein nahm, und nur einige
flüchtige Einfälle und Gedankenentwickelungen in meinem Portefeuille notirte, der
Inspector Matthäi\20\ mit einem grasgrünen
Gesicht, das in den weißen Gipsen wiederschien, mir mit tausend Excüsen und Katzpuckeln
bemerklich machte: daß alle Reflexionen hier verboten seyen Was sagen Sie
dazu. Er für seine Person, wie er hinzusetzte, habe zwar gegen das Reflectiren nichts,
aber seinem Chef dem Herrn Grafen Markolini sey es ganz und gar nicht gelegen. Ich habe
diese Anekdote hier überall in Dresden erzählt und der Herr Ober= und Unterinspector
werden beyde tüchtig ausgelacht. Ueberhaupt steht hier in Dresden die Kunst im Krebs ich
möchte sagen im Scorpion. Es ist sündlich, daß einer mit 16000 Thaler Fond nichts als
schlechte Süjets, elende Zeichenmeister, Stümper und Soumaitres zieht. Der Herr
Oberinspector Markolini kömmt drey Mal die Woche in den Stall denn auch hier
ist, wo zu das Local nöthigt musis et mulis\21\ ein bloß nach Etagen verschiedener Tempel gebaut auf
der Bildergallerie ist er die ganze Zeit seiner Inspection 2 bis 3 Mal gewesen. Gegen
Weimar hat der alte Inspector Riedel, so wie gegen Berlin einen geschworenen Haß: was er
in sein Herz schließt sind Katholiken, Oesterreicher und Bayern. Ueberhaupt hat der alte
Mann eine Zärtlichkeit für alle Dummköpfe, die weit geht: die Gallerie scheint auch
nicht sowohl der Künstler wegen, die sich dort bilden sollen, sondern bloß dieses alten
Hausstücks von Inspectors und der Würmer wegen, die sich dort ungestört nähren, da zu
seyn. Diese kleine Skizze ist nur die Ouvertüre von einem tausendstimmigen ziemlich
mißhelligen Conzert. Ich habe meine Zeit in Dresden gut angewandt ich habe
hier kein einziges Buch nicht ein Mal eine Zeitung gelesen: dagegen waren wir von früh
bis spät auf den Beinen: die Bildergallerie <194:> sowie die Mengsischen
Gipsabgüsse [xx]\22\ 4 Wochen
hintereinander beynah täglich. Das sogenannte Antikenkabinett unter Becker habe
ich einzelne Stücke, die von gutem [×]\23\
sind, ausgenommen tief tief unter meiner Erwartung gefunden. Louis
Wieland ging im Fluge durch Dresden, nur mit Mühe hab ich ihn noch zu den
Mengsischen Gipsabdrücken gebracht. Für die Bildergallerie, so wie überhaupt für Kunst
schien das Interesse in ihm noch nicht erwacht zu seyn. Er erkundigte sich bey mir vor
allen Dingen nach dem göttlichen Stück.\24\ Den
Schlüssel zu diesem Hymmelreich aber konnte ich wenigstens ihm nicht geben. Sein Freund,
der Herr v. Kleist hat den Sohn der göttlichen Marie von Raphael tückisch gefunden
und dagegen eine Magdalena im schlechtesten Geschmack, der die Haare in der Wüste vorn
und hinten zugewachsen sind, für das schönste Stück der Gallerie erklärt. Sie werden
lachen aber es ist so.\25\ Von der
Aufführung seines Stückes in Leipzig schien Louis wenig erbaut, und schimpfte auf die
Ungeschicklichkeit der Aktöre. Alle Künste lernen und treiben wir und vergessen immer
dabey, daß die Kunst zu reisen eine der ungelerntsten und schwersten ist. Ich
kann nicht anders sagen, als daß mir der Aufenthalt in Dresden in mehr, als einer
Rücksicht höchst instructiv gewesen, und daß ich es ohne den geringsten Unmuth oder
Reue verlasse. Mündlich hiervon ein Mehreres. Schließlich eine Bitte. Cotta
ersuchte mich in Leipzig um einen Beitrag für seinen Damenkalender: ich mögte dem braven
Mann, den ich, seit ich ihn näher kennen gelernt habe, doppelt hoch schätze gern zu
willen seyn: bin aber ein Mal so närrisch constituirt, daß ich nur eins von beyden,
entweder bloß leben oder bloß dichten kann. Jetzt lebe ich, und es ist bloß von
Menschen usw. von Gedichten und Büchern gar nicht mehr die Rede. Ich bin, wie Jemand, der
nie eine Feder zum Schreiben angesetzt: in Weimar werde ich sicher wieder anders und wie
einer seyn, der nie irgend einen Umgang mit Menschen gehabt. Der Uebergang aus einem
Verhältniß in das andere wird mir nicht schwer: die Verbindung von beyden, ist mir
schlechterdings unmöglich. Nicht ein Mal das Briefschreiben, will mir fort: sagen Sie das
meinem Freunde Meyer, an den ich tausend freundliche Grüße auszurichten und diesen Brief
mitzutheilen bitte. Um auf Cotta zurückzukommen, was mir nah liegt: haben Sie die
Gefälligkeit und lassen Sie dieses beyliegende Gedicht, die Stanzen an Göthe\26\ durch den Schreiber, den Sie
mir <195:> recommandirt und der meine Hand kennt, abschreiben, und schicken es
sodann an Cotta als einen Aufsatz für seinen Damenkalender. Da das Schauspiel von Göthe\27\ beynah um dieselbige Zeit, als Kalender, im
Publikum erscheint: so dürfte der Versuch den Autor zu errathen, doch vielleicht für
diesen oder Jenen ein Interesse haben. Uebrigens empfehlen Sie mich ihm freundschaftlichst
und entschuldigen mich mit den bewußten Umständen. Ich sollte auch diesen Brief copiren,
aber ich lasse ihn ganz so. Den 2. Juli geh ich von hier nach Wien:\28\ ich verweile 2 Tage in Prag, und nehme von
dort aus unverzüglich meine Route zur Hauptstadt. Ein Brief von ihnen wird mich unter der
Adresse bey Herrn Sonnenleithner zu erfragen um diese Zeit gewiß finden. Eh
ich Wien verlasse: schreib ich wohl an Herrn Wieland oder Meyer ein Paar Zeilen und eine
allgemeine Ansicht der Dinge, die dann auch in ihre Hände komt. Bis dahin behalten Sie
mich in gütigem Andenken, empfehlen mich und meine Frau allen unsern Freunden und
Freundinnen in Weimar, und seyn versichert, daß ich mich mit der größten Achtung nenne Ihren Ergebensten J. D. Falk
- \18\ Meint den Brief vom 22. Mai (wie
Anm. 16), in dem sich Falk über die Erbprozeduren beschwert: Daß der König
in Preußen mitißt, mittrinkt, habe ich längst gewußt, daß er aber auch miterbt, habe
ich erst jetzt erfahren. Das ganze Mobiliare meiner seelig. Schwiegermutter, was
vortrefflich war, ist durch die mechanische Bedlamstollheit, daß es 2 Mal, ein Mal
nach des Vaters, das zweyte Mal nach der Mutter Tode wieder taxirt und inventirt worden,
so gut wie verloren anzusehen.
\19\ Franz Volkmar Reinhard (1753-1812), Hof-,
später Oberhofprediger. Die im folgenden genannten Personen sind (vermutlich)
Karl Joseph Ferdinand Graf von Zedtwitz (1730-1811), kgl. sächs. Rittmeister, und Therese
von (oder: aus dem) Winkel (1784-1867), Dresdner Malerin.
\20\ Johann Gottlieb Matthäi (1753-1832) war
Maler, Bildhauer und Inspektor der Mengsischen Abgußsammlung. Die im
folgenden genannten Personen sind: Camillo Graf von Marcolini (1739-1814), sächsischer
Kabinettsminister und Generaldirektor der Kunstakademie und der Porzellanmanufaktur;
Johann Anton Riedel (1732-1816), Maler und Schriftsteller, Oberinspektor der
Gemäldegalerie; Wilhelm Gottlieb Becker (1753-1813), Schriftsteller, Kunsthistoriker und
Galerieinspektor.
\21\ Für die Musen und Maultiere.
Sinnvoll wohl nur als studentensprachliches Wortspiel: während ,Muse auch
,Pferd und ,Musensitz auch ,Geiststall bedeuten können, ist
,Maultier (als Wesen zwischen Esel und Roß) die Bezeichnung für einen Schüler
zwischen Gymnasium und Universität, also einen angehenden Studenten. Vgl.
etwa J. Vollmann, Burschicoses Wörterbuch, Ragaz 1864, Neudruck mit einem Vorwort
von Dietrich Herzog, Graz 1969. Stall meint natürlich das für
die Galerie erweiterte Stallgebäude am Jüdenhof, heute Johanneum.
\22\ Textverlust durch das Binden der Briefe. An
dieser Stelle läßt sich besuch entziffern, es dürfte also gemeint sein:
besuchten wir oder besuchte ich.
\23\ Ebenfalls Textverlust. Das fehlende Wort
beginnt mit St, also vielleicht Stil.
\24\ Die Lesung Stück nur mangels
Alternative (evtl. Trick). Sie setzt eine bei Falk nicht
auszuschließende fehlerhafte Zeichnung des Buchstaben S voraus.
\25\ Die Episode Den
Schlüssel [
] es ist so. fügt Falk nachträglich ein: zunächst zwischen
den Zeilen, dann mehrzeilig am Rand.
\26\ Das Gedicht ließ sich bisher nicht
ermitteln. Cottas ,Taschenbuch für Damen verzeichnet es nicht, ebensowenig Falks
Werkausgaben (von 1819, um 1850 und 1988). Auch Goedeke verzeichnet unter ,Dichtungen
über und Widmungen an Goethe kein Gedicht Falks (Grundriß zur Geschichte der
deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 4. 4). Mein Dank geht nicht nur in
diesem Fall an die Sächsische Landesbibliothek für freundliche Auskünfte (zuletzt am
25. Januar 1996).
\27\ Meint ,Die natürliche Tochter, die
1803 in Cottas ,Taschenbuch auf das Jahr 1804 als Trauerspiel von Goethe
erscheint.
\28\ In Wien übrigens findet Falk Stoff und Ton
für seine ,Amphitryon -Travestie. Vgl. seinen Brief vom 7. Oktober 1804:
Ich habe eine lustige Posse, unter dem Titel: Das Ich und das Nicht Ich oder die
lustige Hahnreyschaft diesen Sommer verfertiget. Es sind Chöre von Greisen,
Hanswursten und alten Weibern dabey und das Ganze spielt in Wien. In Böttigers
Nachlaß. Signatur: Mscr. Dresd. h 37, Bd. 49 (4°), Nr. 24.
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