Sigismund Rahmer, Heinrich
von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen
(Berlin: Reimer 1909), V-IX
Vorwort.
Als ich an das Kleist-Problem herantrat, stellte ich mir zunächst die
Aufgabe, das Bild des Dichters von den Schlacken zu befreien, die ihm anhafteten. Die
literarisch-historische Forschung hatte in immer ausgesprochenerem Maße der
Lebensbeschreibung Kleists einen pathologischen Zuschnitt gegeben, sie hatte seiner
Eigenart nicht beikommen, das Rätsel seines Lebens nicht anders lösen können, als
dadurch, daß sie aus dem Sänger und Helden einen erblich Belasteten, einen psychisch
degenerierten, einen geistig Gestörten machte. Ich trat dieser Anschauung entgegen, indem
ich vom theoretischen Standpunkt auf den Widersinn hinwies, der darin liegt, das
dichterische Kunstwerk als den Ausfluß der Persönlichkeit immer höher zu bewerten, dem
Bilde des Dichters aber fortdauernd neue pathologische Züge beizufügen. Von der
Anschauung geleitet, daß der geistig-sittliche Kern der Dichtung und des Dichters
identisch ist, daß die progressive Entwicklung des Dichters das Resultat einer
ansteigenden Entwicklung und wachsenden Charakterfestigung des Menschen ist, ging ich an
die Kritik der bisher benutzten Quellen und glaubte den Nachweis erbringen zu können,
daß das bisher benutzte Forschungsmaterial, legendenhaft und tendenziös entstellt, vor
einer strengen Kritik nicht bestehen könne. Das war die Aufgabe, die ich mir in meinem
ersten Buche Das Kleist-Problem gestellt habe, das, im wesentlichen negativ
gehalten, den Beweis zu erbringen sucht, daß die Fundamente der Kleist-Biographie
unzulänglich sind, daß die Forschung ein an Widersprüchen reiches Zerrbild entworfen
hat, und daß der Mensch <VI:> und Dichter Kleist ein bis dahin unverstandenes
und unerklärtes Problem geblieben ist. Neues Material als Ergebnis meiner Forschungen
hatte ich meiner Darstellung nur soweit beigefügt, als es mir notwendig erschien, das
Unzulängliche und Irrtümliche der üblichen Auffassung klarzulegen.
Um das
Gebäude, das ich eingerissen, von neuem auf einem gesicherten Fundamente aufzubauen, habe
ich in langjähriger Forschung nach neuem Quellenmaterial gesucht. Soweit ich solches
schon vor der Veröffentlichung meines Kleist-Problems besaß und durch weitere
Forschungen gefunden habe, stelle ich es in dem vorliegenden zweiten Kleist-Buche
zusammen. Der erste Weg, den ich für die Zwecke meiner Forschung einschlug, ist der
natürlich gegebene, ich wendete mich an das Archiv der Kleist-Familie selbst, in dem
aller Voraussicht nach wertvolles Material niedergelegt sein muß. Das Ergebnis war leider
ein negatives; selbst auf spezielle, bestimmt formulierte Fragen, für welche die Chronik
der Familie Anhaltspunkte bot, erhielt ich abschlägigen Bescheid. Ich mußte andere Wege
einschlagen. Der nächste, welcher sich bot, ist schon von Treitschke gewiesen. Das
gewöhnliche Mittel, schreibt er, über Wert und Bedeutung eines Künstlers ins Klare zu
kommen, die Untersuchung seines Verhältnisses zu den Mitstrebenden, wird durch Kleists
vereinsamte Stellung von vornherein abgeschnitten. Nachdem sich die Voraussetzung dieses
Satzes durch meine Forschungen als unzutreffend erwiesen, nachdem wir zu der Überzeugung
gekommen, daß Kleist nicht ein vereinsamtes, abgeschlossenes, weltabgeschiedenes Leben
führte, sondern im Gegenteil, daß er in der Zeitgeschichte eine maßgebende Rolle
spielte und durch unzählige Fäden mit dem Leben zusammenhing, konnte ich hier den Hebel
ansetzen. Ich suchte durch das Studium der Zeitgenossen und aller der Kreise, die Kleist
im Leben nahegestanden, die Auffassung über ihn selbst zu klären und zu ergänzen und
habe durch die Benutzung von Familienarchiven, sowie der Familientradition, durch eine
umfangreiche Korrespondenz mit <VII:> Überlebenden, durch Einblicke in die
Memoirenliteratur neue Gesichtspunkte gewonnen. Soweit Kleists Bestrebungen und seine
Schicksale in das öffentliche Leben eingriffen, habe ich auch in den staatlichen Archiven
des In- und Auslandes manche Aufklärung gefunden. Schließlich suchte ich noch durch die
Benutzung der zeitgenössischen Literatur und besonders der periodischen Zeitschriften
unser Wissen zu bereichern. Da ich im Text die benutzte Literatur angebe, am Schlusse auch
die Archive anführe, an die ich mich mit und ohne Erfolg gewendet habe, so ist damit der
Weg gezeichnet, den ich im einzelnen gegangen bin.
Mein
Buch will Bausteine herbeitragen zu einer Kleist-Biographie der Zukunft und zu einem
vertieften Verständnis von Kleists Werken, es will die Wege zeichnen, auf denen die
Kleist-Forschung mit Aussicht auf Erfolg weiterarbeiten kann, es will aber auch mancher
irrtümlichen Auffassung und falscher Deutung entgegentreten, die mein Kleist-Problem
hervorgerufen hat. Meine dort geäußerten Anschauungen sind vielfach mißdeutet worden.
Der Standpunkt, den ich vertrat, ist mit wenigen Worten der folgende: Kleists Werke lassen
den genial veranlagten, wohl organisierten Geist, den Menschen von hoher sittlicher Potenz
in steigender Entwicklung erkennen; sein Leben, soweit wir es überblicken können, zeigt
keine Handlungsweise, die auf seelische und geistige Erkrankung hinweist. Was war der
Erfolg meiner Ausführungen? Gewiß hat man, meinen Standpunkt billigend, das Andenken
Kleists aus den Ketten geistiger Umnachtung befreit, aber im allgemeinen sind wir nicht
weiter gekommen als Zolling und andere, die, wo ihr eigenes Verständnis nicht ausreichte
und ihre Psychologie sie im Stich ließ, in einem besonderen Falle die Handlungsweise des
Menschen, die Eigenart des Dichters geistesgestört nannten. Man will heut Kleist nicht
mehr verrückt nennen, aber man kommt doch immer noch nicht aus ohne psychiatrische
Symptome und ist sich nicht klar darüber, daß die einzelnen Symptome die Diagnose der
geistigen Umnachtung <VIII:> ausmachen. Mein Buch beabsichtigt, hier größere
Klarheit zu schaffen.
Das
Ergebnis meiner Forschungen entspricht nicht meinen Erwartungen. Wer die übergroßen
Schwierigkeiten kennt, die sich der Forschung auf diesem Gebiet entgegenstellen, wird auch
über ein bescheidenes Ergebnis Befriedigung empfinden. Meine Forschungen sind nicht
abgeschlossen. Wenn ich sie dennoch vorzeitig abbreche und mit lückenhaften Ergebnissen
an die Öffentlichkeit trete, so bestimmen mich Gründe mannigfacher Art.
Zunächst
haben mich verschiedene Kleist-Forscher ersucht, die Resultate meiner Forschung nicht
länger vorzuenthalten. Sie hoffen aus ihnen Anregung für ihre eigenen Arbeiten zu
gewinnen. In der Tat glaube ich, daß meine Ergebnisse manche Aufklärung und manche
Anknüpfungspunkte bieten.
Sodann
leitete mich bei der verfrühten Veröffentlichung ein persönliches Interesse. Manches
wertvolle und in mühsamer Arbeit gewonnene Resultat ist mir hinterrücks aus den Händen
gewunden worden. Hierzu rechne ich vor allem die drei an Pfuel gerichteten Briefe Kleists,
die für dieses Buch bestimmt waren, und die in dem Briefband der neuen Kleist-Ausgabe
bereits Aufnahme gefunden haben. Ich habe dieses in der wissenschaftlichen Welt
einzigartige Verfahren geistiger Entwendung gekennzeichnet in einem Aufsatze der
Zeitschrift Deutschland (1907 Februar). In der langen Zwischenzeit ist von der
angeklagten Seite eine Entgegnung nicht erfolgt. Sie hat sich mit ihrer
Vogel-Strauß-Politik selbst gerichtet.
In
letzter Reihe bestimmte mich zu einer vorzeitigen Publikation der Umstand, daß ich im
Verfolg meiner Arbeit immer mehr zu der Überzeugung kam, daß die Kraft des einzelnen
nicht ausreicht, um die unabsehbare Menge von Fragen und Untersuchungen, die sich
aufdrängen, zu erledigen. Es bedarf gemeinsamer, wohlorganisierter Arbeit der
verschiedensten Kräfte, wenn der Bau eines Kleist-Gebäudes aufgeführt werden soll:
zahlreicher, opferwilliger, arbeitsfreudiger <IX:> Kräfte unter gemeinsamer
Leitung an den verschiedensten Punkten des In- und Auslandes. Nur so kann auf die Dauer
etwas erreicht werden, nur so läßt sich, schon durch die Autorität einer gemeinsamen
Vereinigung manches retten, das sicherlich in vielen Archiven noch vermutet werden kann.
Wer immer wieder auf seine Anfragen die betrübende Antwort erhält, daß an dieser oder
jener Stelle nachweisbar ein reiches Kleist-Material bis vor wenigen Jahren vorhanden war,
das jetzt vernichtet oder im Auslande verschwunden ist, kommt zur Einsicht, daß unendlich
viel gesündigt wurde. Wir sind nicht am Ende, wie man immer zu hören bekommt, sondern am
Anfange der Kleist-Forschung. Wir können ein Kleist-Denkmal entbehren und können
auskommen ohne ein Kleist-Archiv, dessen Grundlage übrigens in dem Bestande der von der
Presse ungerecht angegriffenden Königlichen Bibliothek gegeben ist was uns nottut
ist eine Organisation wissenschaftlicher Arbeiter, die konsequent das Ziel verfolgt, das
Bild unseres größten dramatischen Genies in ein helles Licht zu setzen. Ich wünschte,
daß mein Appell nicht ungehört verhallt, daß bei vielen etwas von dem wahrhaft
nationalen Pflichtgefühl rege würde, das aus Hebbels Worten spricht, die er in sein
Tagebuch einträgt: Da eben eine neue Ausgabe der Werke Heinrichs von Kleist erscheint, so
will ich zu allernächst durch eine Kritik derselben die Ehrenschuld jedes Deutschen
gegen dieses außerordentliche, zu Tode gemarterte Genie für meine Person abtragen.
Berlin,
November 1908.
Der Verfasser.
|