Sigismund
Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 394-400
Kleists Tod
Kleist, der sich in jungen Jahren und ohne Aussicht auf eine Existenz verlobt
hatte, der ganz offen seiner Braut bekannt hatte, daß es ihm notwendig ist, ein Weib zu
nehmen, daß er seinem Ziele nur ruhig und sicher entgegengehen könne, wenn er ein Weib
sein eigen nenne, Kleist hatte, nachdem in Dresden seine letzte Hoffnung zu schanden
geworden, mit gebrochenem Herzen der Liebe entsagt und glaubte einen Ersatz zu finden in
der treu ergebenen und aufopfernden Freundschaft mit einer Frau, bei der er ein tiefes
Verständnis <395:> fand oder doch voraussetzte. Ein solcher intimer
Freundschaftsbund zwischen Dichter und einer gleichgestimmten Frau ist nichts seltenes,
und der Beispiele ließen sich eine ganze Anzahl anführen, aber für die Eigenart des
Verhältnisses Kleists zu Maria, wie wir es rekonstruieren können aus den letzten
brieflichen Zeugnissen die übrige Korrespondenz hat Marias Sohn leider
vernichtet finde ich in der ganzen Literaturgeschichte nur eine Analogie.
Dieses eine Beispiel, das wir in seinem ganzen Ablauf übersehen können, ist für uns
deshalb so wertvoll, weil wir nach ihm uns über die Entstehung, den Verlauf und die
Folgen eines solchen ungleichartigen Verhältnisses eine Vorstellung bilden können. Darin
liegt eben der Wert des psychologischen und nebenbei auch des psychiatrischen Studiums der
Großen im Geistes- und Gemütsleben, daß ihre Gefühlswahrheit, ihre Fähigkeit in
Worten das Gefühlsleben klarzulegen, uns einen Einblick gewährt in seelisch verwickelte
Prozesse, die wir beim Durchschnittsmenschen zu beobachten und zu verfolgen nicht in der
Lage sind.
Ein Verhältnis, das unter entsprechenden Bedingungen sich entwickelte,
das auf ähnliche Voraussetzungen sich gründete wie bei Kleist, war das zwischen Lenau
und Sophie v. Loewenthal. So absonderlich es klingt, das Leben Lenaus und mehr noch
seine literargeschichtliche Auffassung bietet gewisse Analogien zu dem Leben Kleists.
Beider Leben beendete eine Katastrophe, und wie bei Kleist der Selbstmord, als Symptom
einer geistigen Störung aufgefaßt, die Handhabe bot, um der ganzen Lebensbeschreibung
einen pathologischen Zuschnitt zu geben, so ist auch die biographische Forschung Lenaus
von dem Axiom beherrscht, daß die Geisteskrankheit, die seinem Leben ein Ziel setzte, in
der ersten Anlage des Gehirns gegeben, sich langsam entwickelte, daß alle Erscheinungen
in den verschiedensten Entwicklungsphasen, alle seelischen Eigenarten von dieser
schleichenden Gehirnaffektion abhingen. Genau so wie bei Kleist steht auch heute noch die
literargeschichtliche- und ästhetische Forschung auf dem Standpunkt, daß in Lenaus
furchtbarem Ende nur <396:> zur Aussprache gelangt, was wortlos, verschwiegen
von Anfang an in seinem Leben wirksam war. Ich muß mir vorbehalten, an anderer Stelle
diese auf falsche ärztliche Gutachten gestützte Auffassung zu widerlegen, hier sei nur
kurz erwähnt, daß Lenau an progressiver Paralyse zugrunde ging, daß wir die Ursache der
Krankheit nicht in der Persönlichkeit, nicht in der ersten Anlage suchen, daß sie nicht
eine endogene Geisteskrankheit ist, daß für uns die ausschließliche Ursache die
geschlechtliche, d. h. syphilitische Infektion abgibt. Wie das Liebesleben Kleist
arge Enttäuschungen brachte, so auch Lenau freilich nach einer ganz anderen
Richtung. Die Untreue seiner ersten Geliebten, die ihn in jungen Jahre zum Vater gemacht
hatte, bedingt seelische Erschütterungen, die er nie ganz verwunden hat. Als er wenige
Jahre später zu Stuttgart eine wahre Liebe zu dem Schilflottchen fühlte, muß er ihr
entsagen. Ich liebe das Mädchen unendlich, aber mein innerstes Wesen ist Trauer und
meine Liebe schmerzloses Entsagen man hat das schmerzvolle Entsagen
Lenaus sehr romantisch und tiefgründig psychologisch zu deuten versucht, mir erscheint es
ohne tiefere Deutung als der Schmerzensschrei des Dichters und Arztes, der wohl seine
Freunde zu täuschen wußte, der sich selbst aber der Folgen einer oben angedeuteten
Infektion klar war, welche ja in der Tat lange Jahre später sein trauriges Ende
herbeiführte. Nach solchen entsetzlichen Erfahrungen entsagt Lenau der Liebe und findet
Genüge oder glaubt wenigstens zunächst sich voll befriedigt in dem freundschaftlichen
Verhältnisse zu einer Frau, das dreizehn Jahre andauern sollte, und das wir heut in allen
Einzelheiten zu übersehen imstande sind. Vielfach hat er versucht, sich diesem
Verhältnis zu entreißen, aber er kämpfte vergeblich, und gerade die Episoden: Karoline
Unger und Marie Behrends lassen deutlich erkennen, wie unheilvoll jenes an sich zweifellos
lautere Verhältnis mit der klugen, feinsinnigen und vom Hintergrund ihrer bürgerlichen
Existenz betrachtet gewiß großangelegten Frau auf das Gemütsleben und die Willenskraft
des Dichters wirkte und wirken <397:> mußte. Wir können Lenaus
Gehirnerkrankung, die seinem Leben im Irrenhause ein Ende setzte, als unglückselige
Zufälligkeit uns fortdenken, unabhängig davon hatte sich allmählich im
Verkehr mit Sophie ein Zustand schwerer Angstneurose entwickelt, der auf die eine oder
andere Weise zu einer Katastrophe führen mußte.
Das Leben Kleists weist nicht die schweren sexuellen Traumen auf, aber
auch ihm brachte das Liebesleben andauernde Enttäuschungen. Er sucht zeitlebens nach der
Liebe, wie sie ihm in idealer Vollkommenheit vorschwebt, ein Verlöbnis scheint dem
anderen zu folgen, und immer wieder sieht er sich in seinen Erwartungen und Hoffnungen
getäuscht. Woran das lag? Sicherlich an Kleist selbst. Beurteilen wir den Bräutigam
Kleist nach den Briefen an Wilhelmine, so zeigt er wenig Talent zum Liebhaber. Nichts
verrät in seinen Briefen das Übermaß des Phantasten, nichts die schwelgerische
Üppigkeit des Lyrikers, die dürre Härte seines abstrakten Doktrinarismus muß auf ein
Mädchenherz abschreckend wirken. Zeitgeist und Zeitgeschmack sind kein Einwand. Wer
Talent hat zum ehelichen Glück und zum Beglücken, der schreibt nicht seiner Braut, sie
soll und werde noch einst mit ihm glücklich sein, der malt nicht gleichzeitig das Glück
aus, das er von ihr erwartet, und demonstriert ihr nüchtern den Zweck der Ehe, die
Bestimmung des Weibes. Mag die Liebe zu Wilhelmine eine Täuschung gewesen sein, mag er in
ihr mehr das Bild geliebt haben, das er von ihr abstrahierte, als sie selbst, auch sonst
lag in seiner Eigenart Stoff genug zu Konflikten. Kleist jagte einem Ideal nach, das er in
vollendeter Größe in Penthesilea und Käthchen gezeichnet hat; wenn er es im Leben
gefunden zu haben glaubte, so vergaß er daran, daß seine Braut ein Produkt der
bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Anschauungen und Grundsätze war. Dazu kam, daß ein
ungewöhnliches Geschick ihn auffallend viele unglückliche und geschiedene Ehen sehen
resp. an ihnen teilnehmen ließ, und daß ihm dadurch sein Entschluß zur Ehe nur noch
schwerer fallen mußte. Die <398:> Lösung des Herzensbundes mit Wilhelmine
ging bei Kleist anscheinend spurlos vorüber und ohne tieferen Eindruck, anders zwei
andere Liebesaffären, von denen wir wissen. Nichts genaues ist uns berichtet über den
Liebesbund Kleists während seiner Potsdamer Dienstzeit, nur das eine, was wir als
gesichert annehmen können, weil es sich später entsprechend wiederholte, hat sich
erhalten, daß Kleist bis dahin ein lebensfrischer, eleganter Junker und Soldat, jetzt
mißvergnügt und tiefsinnig erschien, sein Äußeres vernachlässigte und anfing
sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Und als sein letztes Verhältnis in
Dresden auseinanderging, so tobte er in wahnsinnigem Schmerz, wie uns Pfuel berichtet, und
hat diesen Schmerz niemals verwinden können. Kleist, der einst von sich selbst gesagt
hat, daß für ihn ein Weib und die Ehe unbedingt notwendig sei, und der bis dahin
entsprechend sich verhalten hatte, verzichtete auf die Ehe und allmählich schloß er sich
in wachsender Intimität einer Frau an, an die ihn schließlich ein Verhältnis band, das
in seinen Bedingungen und seinem Charakter an das zwischen Lenau und Sophie gemahnt. Wie
auf Lenau mußte ein solch ungleichartiger Bund auch auf ihn unheilvoll wirken. Es
erübrigt sich diese Wirkung im Leben, in der Dichtung, in den Handlungen Lenaus
eingehender zu verfolgen, wir können auch bei Kleist ohne den Vergleich heranzuziehen
klar genug sehen. Kleist schildert selbst mit wenigen treffenden Worten seine psychische
Reizbarkeit, seine nervöse Hyperästhesie in der letzten Lebenszeit, wenn er an Marie
(10. XI. 1811) schreibt: meine Seele ist so wund, daß mir, ich möchte
fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe thut, das mir
darauf schimmert und einige Zeit später mit Bezug auf seine Reizbarkeit: nun
ist es zwar wahr, es war in den letzten Zeiten, von mancher Seite her, gefährlich, sich
mit mir einzulassen. Wie immer in seinen Dramen Kleist genau die Grenze zieht
zwischen dem Gesunden und Kranken, so beeilt er sich auch in dieser Briefstelle besonders
hervorzuheben, daß <399:> er deswegen nicht krank und geistesgestört ist,
das wird mancher für Krankheit und überspannt halten, nicht aber Du usw. Wir
können Kleist trauen, daß sein Zustand kein pathologischer ist, aber seine Psyche
befindet sich, wie er selbst fühlt, in einem labilen Gleichgewicht und eine erhöhte
Ansprechbarkeit (Hyperästhesie) des Nervensystems verbindet sich mit einer herabgesetzten
Stabilität der Psyche. Das ist ein Zustand, wie wir ihn annähernd auch in der
Guiskard-Periode des Dichters beobachten konnten. Kleist meidet den Umgang mit Menschen;
er schließt sich ab, verbringt einen großen Teil des Tages zu Bett, er vernachlässigt
wie nach der Potsdamer Erfahrung sein Äußeres. Seine Geschwister erschraken in Frankfurt
vor seinem verwahrlosten Aussehen, und auch in den oben angeführten Reminiszenzen einer
Freundin heißt es, daß sich die Berliner über sein Aussehen lustig machten. Ein
deutliches Symptom seiner labilen Gemütsverfassung ist ferner seine in den Dokumenten der
letzten Lebenstage deutlich hervortretende Neigung zur katholischen Mystik\1\, die sich in seinen letzten Briefen zu
ausgesprochener mystischer Raserei steigert. Ich habe mich über den Mystizismus in
Kleists Werken eingehender ausgesprochen im Kleist-Problem (S. 125ff.) und habe hier
hervorgehoben, daß im Gegensatz zu den Romantikern, das mystische Beiwerk bei Kleist nur
Mittel zum Zweck ist, daß es bei Kleist niemals die klare und unbeirrte Charakteristik
stört oder ersetzt, sondern im Gegenteil die Entfaltung des inneren Seelenlebens seiner
Helden nur fördert. Daß Kleist nach seiner ganzen religiösen Anschauung und nach seiner
Charakteranlage wenig zum Mystizismus neigt, braucht nicht besonders hervorgehoben zu
werden bei einem Dichter und Denker, der völlig auf dem Boden exakter Wissenschaft
(speziell Mathematik und Logik) steht. Und doch sehen wir in den beiden Lebensphasen, in
welchen sich starke seelische Schwankungen bei ihm geltend machen, d. i. während der
Guiskard-Periode <400:> und am Lebensende, wie er zum Katholizismus seine
seelische Zuflucht nimmt. Jetzt sehen wir die Beweise seiner Stimmung in der Todeslitanei
und in den Abschiedsbriefen, damals in seinen Bekenntnissen, die ausklingen in den
Schmerzensschrei: ach nur ein Tropfen Vergessenheit und mit Wollust würde ich
katholisch werden. Kleist nimmt hier keine Sonderstellung ein. Es ist eine
psychologisch interessante Erscheinung, die wir bis in unsere Tage verfolgen können, daß
gerade die feinsten und revolutionärsten Köpfe von der Stürmen im Meere der Gedanken
und Gefühle sich in die Arme des Katholizismus retten. Wie wir aus Kleists Worten
herauslesen können (an Wilhelmine 21. V. 1801) ist es der große und
überreiche Stimmungsapparat, welcher das phantastisch-dichterische Gemüt und den
kontemplativen Geist so leicht niederzwingt und bewältigt.
\1\ Vgl. August Sauer: Kleists Todeslitanei.
Prag 1907.
|