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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 30-35

Ernst von Pfuel und andere Freunde Kleists aus der Potsdamer Militärzeit


Die Weimarer Periode im Leben Rühles – das sei der Vollständigkeit wegen angeführt – sollte ein frühzeitiges Ende erreichen. Die geplante Italienreise ist nicht in Gesellschaft Rühles und Boses erfolgt. Das Verhalten Rühles gegen seinen Zögling, an dem die Umgebung schon längst Anstoß genommen hatte, erschien allmählich selbst dem Herzog, der bisher immer Rühles Partei genommen hatte, derart, daß auch er endlich die Überzeugung gewann, daß sein ferneres Verbleiben bei dem Prinzen nicht ersprießlich sei. Gleichzeitig einlaufende ungünstige Berichte über Bose führten für diesen dasselbe Geschick herbei, und trotz beider wiederholten und inständigen Bitten wurden Bose und Rühle, dieser unter Erteilung des Oberstpatentes, ihrer Funktionen enthoben.
Die Persönlichkeit Rühles ist für uns während der Dresdener Periode von besonderm Interesse nicht bloß deswegen, weil er durch seine Stellung unter den Freunden hervorragt, sondern auch weil er hier unter den Augen Kleists eine reiche literarische Tätigkeit entfaltete. Kleists Briefe an Rühle, seine an ihn gerichteten längeren Abhandlungen, Andeutungen in Briefen an Pfuel u. a. belehren uns darüber, daß Kleist an Rühles Talenten viel Freude fand, und daß sein Verhältnis zu ihm stets das eines Lehrers und Beraters war. Rühle hatte sich in früheren Jahren dichterisch betätigt; von ihm stammen Sonette und eine Bearbeitung von Romeo und Julia aus dem Jahre 1806, zu der Meyerbeer die Musik <31:> komponieren wollte.\1\ Dann veröffentlichte er nach Jena den auch von Kleist öfter erwähnten Bericht eines Augenzeugen usw. und während des Zusammenlebens mit Kleist das merkwürdige Buch: Hieroglyphen oder Blicke aus dem Gebiet der Wissenschaft in die Geschichte des Tages. Das Werk enthält seine geschichtlichen und seine namentlich auf den Orient gerichteten Studien, aber es bringt auch allgemeine Betrachtungen und philosophische Ansichten. Hier ist der Einfluß Kleists unabweisbar, und er tritt deutlich zu Tage namentlich in den Ausführungen über die Bedeutung der Mathematik, die seiner Zeit weit vorauseilen, und die wir bei Kleist andeutungsweise wiederfinden. Entschieden werden wir auf Kleist selbst hingewiesen, wenn Rühle fordert, daß der Mathematik der Tribut gezollt werde als erster und Grundwissenschaft. Ist nicht, so schreibt er, jede symbolische Konstruktion eine mathematische, jede chemische und militärische Operation, jede Lehre in der Physik, in der Astronomie, in der Musik, in der Optik, in der Technik? – – „Lassen sich vermittels ihrer nicht das ganze Widerspiel der Farben, der chemischen Verwandtschaften und organischen Krystallisationen, der Elektrizität, der dynamischen Kräfte und des Magnetismus, alle logischen und metaphysischen Ideen in anschaulichen Formen und Zeichen ausdrücken? Läßt sich vermittels der analytischen Geo- und Trigonometrie und vermittels der algebraischen und kombinatorischen Analysis nicht das Gesetz und die Anomalität und der innere Bau jeder Sprache und jedes Gedichtes nachbilden und darstellen, nicht jede mögliche Melodie und Harmonie, jeder erfundene oder noch zu findende hörbare Laut hinschreiben und angeln?“ Wir finden hier oft geäußerte Gedanken Kleists wieder, der während seines Schaffens stets versucht hat, die Musik und andere Künste auf einfache algebraische Formeln zurückzuführen. <32:>
Mit dem Jahre 1808, ungefähr gleichzeitig mit dem Phöbus\1\ gab Rühle eine bei Cotta erscheinende Zeitschrift heraus, die zwei Jahrgänge aufzuweisen hat, und die „Pallas, eine Zeitschrift für Staats- und Kriegskunst“ betitelt ist. Goethe sollte nicht recht behalten, als er schrieb, daß Adam Müller wohl den ganzen Vorrat seiner Tätigkeit brauchen werden, um die Sonnenpferde zu füttern; auch an der „Pallas“ ist er sehr stark beteiligt, und wenn er auch hier nicht einen so großen Raum einnimmt, wie später in den Abendblättern, so enthält doch der erste Jahrgang vier umfangreiche Aufsätze über Adam Smith, den Geburtsadel, den Zeitgeist, den Adel, der zweite Jahrgang fünf Abhandlungen nach seinen Vorlesungen. Außerdem finden sich in beiden Jahrgängen eine Anzahl kleiner Aufsätze ohne Angabe des Autors, die von Adam Müller stammen, da sie in den ersten Band seiner Werke aufgenommen sind. Kleist ist, was zunächst befremden muß, in der Zeitschrift seines intimen Jugendfreundes nicht vertreten, wenigstens findet sich kein Beitrag unter seinem Namen.
Die Dresdener Periode bedeutet im Leben Kleists nicht bloß eine Zeit erstaunlich gesteigerter dichterischer Produktion, sondern auch eine Zeit der Fortbildung und eifriger Studien. Er hört die Vorlesungen Adam Müllers, dem nachgesagt wird, daß sein Vortrag einen mächtigen, bezwingenden Eindruck machte, er vertieft sich in die Schriften Gotthilf Heinrich v. Schuberts, hört seine Vorlesungen über die Nachtseiten der Naturwissenschaft, über Visionen, Magnetismus, Ahnungen, Somnambulismus und beschäftigt sich eifrig mit hypnotischen Versuchen. Franz Wallner in der „Gartenlaube“ und ebenso Loewe-Kolb in der „Deutschen Rundschau“ erzählen eine im Pfuelarchiv bestätigte Anekdote: Pfuel besuchte mit Kleist <33:> die Vorstellungen einer Somnambule. Der sie begleitende Magnetiseur erklärte, daß selbe gegen alle Berührung mit Metallen eine unüberwindliche Abscheu habe. Nach einer Weile flüstert Kleist seinem Freunde zu, daß er den Nacken der Hellseherin mit seinem Schlüssel heimlich berührt habe, ohne daß sie irgend einen Abscheu geäußert. „Nun, meinte Pfuel, so drücke ihr einen harten Taler in die Hand, dagegen wird sie wohl noch weniger Aversion haben.“
Auch der Archäologe Karl August Böttiger gehörte in Dresden zu den Lehrern Kleists, und es ist wohl kein Zweifel, daß die Penthesilea unter seinen Augen entstanden ist. Für die persönlichen Beziehungen der beiden haben wir keine dokumentarischen Beweise, aber dafür eine Anzahl sicherer Anhaltspunkte. Böttiger ist auf das eifrigste noch lange Zeit nach Kleists Tode in geistreichen und eingehenden Besprechungen für seine Dramen eingetreten; wie Tieck in Dresden so versuchte er in Wien dem „Prinzen“ den Boden zu ebnen; in Böttigers Besprechungen – das macht noch heut ihren Wert aus – weist manche Bemerkung auf eine genaue Vertrautheit mit den persönlichen Verhältnissen des Dichters und seine speziellen Absichten hin. Wenn Kleist in dem Briefe an die Hendel-Schütz vom Herbst 1807 behauptet, daß die Frauen von der griechischen Bühne ausgeschlossen waren, so nimmt er damit für seinen Lehrer Partei. Denn damals war Böttiger mit dieser Anschauung hervorgetreten und hatte sie in einer heftigen Zeitschriftenpolemik gegen Schlegel und andere festgehalten.
Die Bekanntschaft mit dem Körnerschen Hause muß unbedingt schon in eine frühere Zeit zurückreichen, denn schon von Königsberg aus schreibt Kleist an Rühle, daß Pfuel „vor die Stadt rückt, in welcher zugleich der Feind und sein Mädchen wohnt“. Die Kombination, daß Schiller oder Rühle die Bekanntschaft mit Körner vermittelte, trifft also nicht zu, denn Pfuels Mädchen war Emma Körner, welche eine lebhafte Neigung für Pfuel hegte, die von ihm nicht unerwidert <34:> blieb\1\. Ein doppelter Herzensbund fesselte die Freunde Kleist und Pfuel an das Körnersche Haus. Wir werden an anderer Stelle (siehe III 1) auf Kleists Neigung zu dem Mündel Körners zurückkommen.
Eine Reminiszenz auf den Verkehr der beiden Freunde im Haza’schen Hause finde ich in einem Manifest vom 5. Mai 1848, an den General v. Pfuel gerichtet, von v. Haza-Radlitz: „Exzellenz,“ heißt es da, „um der Stunden willen, welche Sie ehemals bei dem Beginn fast gleichmäßig bewegter Zeiten in dem Hause meiner Eltern verlebt haben – “
In Dresden vollzog sich die Umwandlung des Kosmopoliten Kleist zum Vaterlandsfreunde. Man hat, ohne direkte Beweise dafür beizubringen, diese Umwandlung namentlich auf den Einfluß A. Müllers zurückgeführt. Wie mir scheint nicht mit Recht. In den Briefen Kleists macht sich schon lange vorher eine Entwicklung nach dieser Richtung geltend, und wie ich später zeigen werde, haben Kleists Erfahrungen und Bekanntschaften in der Schweiz zweifellos viel entschiedener nach dieser Richtung gewirkt. Die Entwicklung Kleists zu dem glühenden Patrioten, wie er seit Dresden in die Öffentlichkeit tritt, ist eine langsame, folgerichtige und stetige gewesen, und Müllers Einfluß erscheint nur untergeordnet. Das eine sei zugegeben, daß sich Müller sehr deutlich in einer seiner Schriften über das Verhältnis von Weltbürgertum zu nationaler Gesinnung ausgesprochen hat, aber es ist doch unentschieden, ob nicht umgekehrt Kleists Gesinnung aus den Worten Müllers spricht, wenn er sich in seinem Aufsatz: Die Rückkehr des Königs von Preußen in seine Hauptstadt 1809 folgendermaßen äußert:
Vom Weltbürgersinn, der die Vorliebe für das nähere Vaterland ausschließt, von aller Vereinzelung, und allen Cultur-Frivolitäten in seinem Gefolge, sind die Besseren unter uns glücklich geheilt: er war eine Stufe der Bildung, ein Kapitel <35:> unserer Historie; wir mußten hindurch. Wenige Nationen haben die Liebhaberey des Ausländischen und – des Außerzeitigen, möchte ich sagen, des Ehemaligen, zum Nachtheil des Vaterländischen und Gegenwärtigen, weiter getrieben, als wir Deutsche. Alles muß jetzt einander näher rücken in dem bedürftigen Augenblicke: Arbeit, Genuß, Wissenschaft, Kunst, muß vaterländisch werden, wohin der richtige und wahrhafte Sinn des Königs schon längst gestrebt hat. Ist man erst Bürger, so ist es immer noch Zeit, Weltbürger zu werden: an Gelegenheit zum Umgange mit andern Völkern, und zwar zu einem ehrenvollen und stolzen Umgange, wird es uns nicht fehlen, wenn wir wirklich ein Volk sind, und so auch an den Segnungen nicht, welche dieser erhabene Verkehr mit sich führt.“

\1\ Die von Kleist erwähnte Racine-Übersetzung ist in der Rühle-Biographie nicht erwähnt.
\1\ Es sei hier bemerkt, daß die Idee zur Gründung des Phöbus nicht von Kleist, sondern von A. Müller stammt resp. von ihm propagiert wurde. Denn am Schluß seiner Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1807) weist er bereits auf das nächstens erscheinende Journal für die vermittelnde Kritik hin.
\1\ Der Rückzug der Franzosen aus Rußland, aus dem Nachlaß des verstorbenen kgl. preuß. Generals d. Inf. Ernst v. Pfuel, herausg. mit Gedenknissen des Verstorbenen von Dr. Fr. Förster. Berlin 1867.


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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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