Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen
Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 20-25
Ernst von Pfuel und andere Freunde Kleists aus der Potsdamer Militärzeit
Die angeführten Briefstellen sind für uns bemerkenswert aus
verschiedenen Gründen. Ihr besonderer Wert liegt zunächst darin, daß wir hier zum
ersten Mal von dritter Seite Angaben über die Persönlichkeit der Maria v. Kleist
erhalten, die uns einen bestimmteren Eindruck geben, als wir ihn aus den spärlich
erhaltenen Briefen an sie oder von ihr bekommen. Es ist hier nicht der Platz, darauf
näher einzugehen, wir werden (III 2) darauf zurückkommen. <21:>
Sodann
wird unsere Aufmerksamkeit gelenkt auf eine Episode im Leben Kleists und auf sein
Freundschaftsverhältnis zu dem schon früher flüchtig erwähnten Schlotheim. Hartmann
von Schlotheim stammte aus Schwarzburg, war etwa 5 Jahre älter als Kleist und diente seit
Juli 1788 im Regiment Kronprinz Nr. 18. Das Regiment stand in Potsdam und hieß seit
1797 Königsregiment Nr. 18. Schlotheim und Kleist waren also nicht
Regimentskameraden. Schlotheim avancierte in dem gleichen Regiment am 4. Juni 1790
zum Fähnrich und am 9. August 1793 zum Sekondlieutenant. Am 7. Mai 1801 wurde
er Gouverneur beim Prinzen Karl von Mecklenburg-Strelitz, am 26. Juli 1803
Stabskapitän in der Armee und am 17. April 1804 Wirklicher Kapitän und
Quartiermeister-Lieutenant. Schlotheim war also im Range Kleist weit voraus, als er im
April in einer hypochondrischen Anwandlung einen Selbstmordversuch ausübte. Der
Selbstmordversuch war wohl die Ursache, weshalb er am 25. desselben Monats dimittierte; am
8. Mai des gleiche Jahres erhält er die Erlaubnis, die Armeeuniform zu tragen.
Soweit
geben uns über Leben und Laufbahn Schlotheims die Akten der Geh. Kriegskanzlei des
Kriegsministeriums Auskunft. Was wir sonst über die Beziehungen der beiden wissen, ist
spärlich,\1\ aber auch die wenigen Brocken,
die wir zu dem Freundschaftsbunde beitragen können, beweisen, daß ein dauerhaftes Band
Kleists von seiner Potsdamer Dienstzeit bis an das Lebensende mit dem älteren Freunde
zusammenhielt. Die gemeinsame musikalische Veranlagung, die wir bereits oben erwähnt
haben, mag den Grund zu der Freundschaft gelegt haben. <22:>
Der
neue Vorfall, von dem der Brief berichtet, läßt uns die liebevolle, aufopfernde
Gesinnung Kleists erkennen. Auf die Unglücksnachricht eilte Kleist sofort an das
Krankenlager des Freundes, er bleibt Tag und Nacht an seiner Seite, er, dem solche
seelischen Verstimmungen nicht unbekannt sein mochten, bringt dem Freunde Verständnis und
Mitgefühl entgegen, er ist imstande, allmählich seine Stimmung zu heben, ihn durch
vernünftigen und liebevollen Zuspruch zu beruhigen. Aber nicht bloß das gegen die
Vorwürfe und das Geklätsch der Gesellschaft ergreift er öffentlich des Freundes Partei,
er rechtfertigt seinen Schritt und tritt unentwegt allen Beschuldigungen und
Verunglimpfungen der Gesellschaft entgegen. Es kümmert ihn nicht, daß er damit die Leute
und die Gesellschaft sehr skandalisiert, wie sich die Briefschreiberin ausdrückt. Auf
diese Weise mögen zum guten Teil die vagen und unfaßbaren Gerüchte entstanden sein,
welche über einen angeblichen Selbstmordtrieb des Dichters verbreitet waren.
Es ist
ein eigentümliches Verhängnis im Leben Kleists, daß ihm der Selbstmord so oft
entgegentrat, und daß unter denen, die ihm am nächsten standen, gleichsam eine
Selbstmordmanie umging. Der unglückliche Vetter, mit dem er gemeinsam seine erste
Erziehung im Elternhause erhielt, gab sich als Offizier selbst den Tod. Aus Kleists
Studienzeit wird dann weiter berichtet, daß er aufs tiefste erschüttert wurde, als einer
seiner nächsten Freunde sich durch einen Pistolenschuß das Gesicht entstellt hatte, ohne
zu sterben, und daß er dem Unglücklichen einen herzergreifenden Brief über das
Sündhafte einer solchen feigen Tat schrieb. Es folgt im Jahre 1805 der Selbstmordversuch
Schlotheims; wenige Monate später berichtet Kleist an Pfuel über einen Selbstmord
Gualtieris. Das nächste Jahr bringt den Selbstmord Otto v. Kleists, der seit 1797
Direktor der école militaire, wie wir gesehen haben, der treueste Beistand des
Dichters und seiner Freunde war. Er hatte nach dem Tode der ersten Frau die Witwe des
Verlegers Himburg im Jahre 1806 geheiratet; im Oktober desselben <23:> Jahres
erschoß er sich. Die Kleistsche Familienchronik erzählt, daß er nach Jena in das
königliche Schloß geeilt wäre, um Dispositionen für seine Zöglinge nachzusuchen; als
er den König nicht sprechen konnte, wäre er aus Sorge um das Geschick seiner Schüler in
den Tod gegangen. Die Darstellung ist völlig aus der Luft gegriffen. Ich ersehe aus den
Akten des Geh. Staatsarchivs, daß Schulden und Unregelmäßigkeiten in der
Dienstführung Otto v. Kleist in den Tod trieben. Die Witwe leitete den
erbschaftlichen Liquidationsprozeß ein, der sich sehr lange hinzog und auch im August
1812, soweit reichen die Akten, noch nicht beendigt war. Die Weitläufigkeit und
Schwierigkeit der Sache trug die Schuld indem alle Unordnungen, welche in der
Dienstführung des Generalschuldners seit mehreren Jahren eingerissen waren, reguliert und
Verhältnisse auseinandergesetzt werden müssen, deren Verwicklung dem Verstorbenen das
Leben gekostet hat. Der Umwandlung der école in ein neues Institut waren
damit große Schwierigkeiten in den Weg gestellt.
Ich
habe die seltsam häufigen Selbstmorde und Selbstmordversuche aus der nächsten Umgebung
Kleists im Zusammenhang besprochen, weil natürlich alle diese tragischen Ereignisse nicht
spurlos an dem Dichter vorübergehen konnten, weil sie das Närrische in der Behauptung
aufdecken, er hätte vergeblich einen Todesgefährten gesucht, und weil sie in Verbindung
mit dem Freimut, mit welchem er sich nicht nur in Briefen, sondern auch in der
Gesellschaft über den Selbstmord ausließ, eine Erklärung abgeben für die Gerüchte,
die über seinen eigenen Selbstmordtrieb umgingen.
Kehren
wir zurück zu Schlotheim. Er sollte sehr bald Gelegenheit finden, sich Kleist für seinen
Liebesdienst dankbar zu erweisen. Als Kleist anfangs 1807 in französische Gefangenschaft
geriet, muß er ihn aus der Entfernung auf dem Transport nach Frankreich hilfsbereit
begleitet haben, denn Kleist erwähnt seiner in zwei Briefen, und es geht aus den
betreffenden Briefstellen (23. April und 8. Mai 1807) <24:> hervor,
daß Schlotheim zwischen Ulrike und Kleist vermittelte. Die freundschaftlichen Beziehungen
hielten nachweisbar an bis in den Mai 1810. Anfang dieses Jahres machte Kleist eine Reise
nach Gotha, wo Schlotheim sich aufhielt, deren Zweck uns unbekannt ist, und bald darauf im
April und Mai des Jahres führte er in Geldangelegenheiten des Freundes eine uns erhaltene
Korrespondenz mit dem Porträtmaler Wilhelm Reuter\1\.
Wir
sind über die Beziehung Kleists zu Schlotheim nur sehr mangelhaft unterrichtet. Es ist um
so bedauerlicher, als dieser Freund neben Pfuel von frühester Zeit bis an das Lebensende
Kleist treu blieb, und weil sich voraussetzen läßt, daß er schon wegen seines höheren
Alters und seiner höheren Stellung einen bestimmenden Einfluß auf Kleist hatte.
Kurze
Zeit nach dem geschilderten Selbstmordversuch Schlotheims machte sich Kleist auf den Weg
nach Königsberg, wo er in den ersten Tagen des Mai anlangte. Pfuel mag ihn auf dem Wege
nach Johannisburg begleitet haben. Ob Pfuel bald in den ersten Wochen des Königsberger
Aufenthaltes Kleist besuchte, oder ob er, was wahrscheinlicher ist, seinen Weg über
Königsberg nahm und sich dort einige Zeit aufhielt, läßt sich aus Kleists Briefe vom
2. Juli 1805 nicht mit Sicherheit entnehmen. Während seines Königsberger
Aufenthalts wird Kleist wahrscheinlich seine größte Novelle, den Kohlhaas, in Angriff
genommen haben. Die äußere Anregung zur Bearbeitung dieses Stoffes soll von Pfuel
ausgegangen sein. Wir werden in einem besonderen Abschnitt (II 2) prüfen, was wir
davon zu halten haben. <25:>
Pfuel
blieb nicht lange in der abgelegenen ostpreußischen Garnison, er kam in den Generalstab
und kämpfte mit in der Schlacht bei Auerstädt als Adjutant des Generals und
Divisionskommandeurs von Schmettau. Bei dem vollkommenen Desastre nach Jena schließt er
sich dem Blücherschen Korps an und eilt diesem nach Stettin voraus, um für den Plan
einer Einschiffung des Korps in Rostock zu wirken\1\.
Durch die Kapitulation von Ratkau bei Lübeck gerät Pfuel in Gefangenschaft, aus der er
freigelassen wird gegen das Ehrenwort, in diesem Kriege nicht wieder gegen Frankreich zu
kämpfen. Seine Hoffnung auf Auswechslung in Ostpreußen, wohin er sich im Dezember 1806
von Lübeck aus einschiffte, geht zu schanden, und im Anfange des nächsten Jahres trifft
er wieder mit Kleist in Königsberg zusammen. Pfuel begleitet Kleist und die
verabschiedeten Offiziere Gauvain und Ehrenberg auf ihrem Wege von Königsberg über
Stettin und Berlin nach Dresden, um die Auswechslung durch die in der Mark und Schlesien
aufgetauchten Freikorps zu erreichen. Kurz vor Berlin biegt er ab, um seinen Freunden in
Nennhausen einen Besuch abzustatten, und so entgeht Pfuel dem Schicksal Kleists und seiner
Begleiter, in Berlin festgehalten und nach Frankreich deportiert zu werden.
\1\ Meine ausgedehnten
Bemühungen bei überlebenden Familienmitgliedern etwas über H. v. Schlotheim
und seine Freundschaft mit Kleist zu erfahren, waren ergebnislos. Die Familientradition,
die sich allein erhalten hat, ist die Kenntnis von dem Selbstmordversuch. Es wird
berichtet, daß eine Beziehung Schlotheims zu einer sehr hochgestellten Dame die
Veranlassung abgab. Das Motiv war überspanntes Ehrgefühl.
\1\ Über ihn finden sich in
Naglers Künstlerlexikon nur die folgenden kurzen Notizen: Wilhelm Reuter, Maler, widmete
sich um 1790 in Berlin der Kunst, besonders der Bildnismalerei. Er malte Porträts in Öl
und Miniatur. Dann befaßte er sich zu Anfang dieses Jahrhunderts mit Zeichnungen auf
Stein, mit der damals sog. Polyautographie, deren Erzeugnisse jetzt zu den Inkunabeln der
Lithographie gehören. Er war noch 1810 tätig.
\1\ Näheres hierüber
bringen die Memoiren des Generals L. v. Reiche, Leipzig 1857 I S. 177.
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